Bielefelder Gefängnispsychiater schlägt Alarm: "Immer mehr Häftlinge werden zur Gefahr"

Bielefeld/Düsseldorf. Gefangene, die sich Kakao mit ihrem Urin anrühren, mit Kot oder Blut Hieroglyphen an die Wand schmieren, stundenlang aus Leibeskräften schreien, Erbrochenes essen oder aus der Toilettenschüssel trinken. Der Bielefelder Psychologe Dierk Brunn hat diese nur schwer zu ertragenen Situationen in der JVA Bielefeld-Brackwede und anderen Gefängnissen in NRW beobachtet. &bdquo;Das ist Alltag in den Justizvollzugsanstalten des Landes und die Folge der Unterbringung psychisch auffälliger Menschen im normalen Strafvollzug." Der Bund der Strafvollzugsbediensteten Deutschlands (BSBD) in NRW bewertet die psychiatrische Versorgung der 15.477 Gefangenen in NRW als völlig unzureichend und fordert neben einer Aufstockung des Personals den Bau von Kompetenzzentren, um der wachsenden Zahl psychisch auffälliger Gefangener gerecht werden zu können. &bdquo;Die Anzahl psychisch Auffälliger im Strafvollzug hat dramatische Dimensionen angenommen", sagt Brunn, der seit zehn Jahren als Psychologe im Strafvollzug tätig ist und aktuell in der JVA Bielefeld-Brackwede arbeitet. Der Bielefelder Psychiater Carl-Ernst von Schönfeld von der forensischen Fachambulanz Bethel geht nach der Auswertung von Studien davon aus, dass mehr als 80 Prozent der Gefangenen psychisch auffällig sind. Das Justizministerium in NRW hat bislang keine Zahlen dazu erhoben. 2021 sollen erstmals valide Zahlen vorliegen. "Sie gehören dringend in psychiatrische Behandlung und nicht in ein Gefängnis." &bdquo;Viele Straftäter haben bereits Vorerkrankungen und die Unterbringung im Gefängnis erhöht das Risiko für das Auftreten neuer Erkrankungen", erklärt Brunn. &bdquo;Eine sinnvolle Behandlung und Unterbringung dieser Menschen ist im Strafvollzug nicht möglich, sie gehören dringend in psychiatrische Behandlung und nicht in ein Gefängnis." Denn der Gefängnisalltag sieht für viele psychisch Erkrankte 23 bis 24 Stunden in einer Einzelzelle vor, weil sie nicht in das Freizeitprogramm integriert werden können. &bdquo;Unter dieser Art der Unterbringung leiden die Betroffenen." Doch schnelle und unkomplizierte Hilfe für psychisch auffällige Gefangene gibt es laut Brunn im Strafvollzug in NRW aktuell nicht. Das Justizvollzugskrankenhaus in Fröndenberg hat lediglich 13 Plätze für psychisch Auffällige. &bdquo;13 Plätze für die 15.477 Gefangenen im Strafvollzug in NRW. Für Frauen ist zudem kein einziger Platz vorgesehen", moniert der BSBD-NRW-Vorsitzende Ulrich Biermann. Die Gewerkschaft fordert den Bau von Kompetenzzentren Deshalb fordert die Gewerkschaft den Ausbau des Justizvollzugskrankenhauses und den Bau von Kompetenzzentren, für die Behandlung von psychisch auffälligen Gefangenen – auch in Bielefeld. &bdquo;Für jede der 36 Justizvollzugsanstalten in NRW muss die Möglichkeit bestehen, psychisch Auffällige von Fachpersonal behandeln zu lassen. JVA-Bedienstete sind für die Betreuung nicht ausgebildet. Ihnen wird eine Aufgabe aufgebürdet, die sie nicht lösen können und an der sie selbst zu zerbrechen drohen", sagt Biermann. &bdquo;Zudem leiden auch die gesunden Gefangenen, denn die Betreuung von psychisch Auffälligen bindet unglaublich viele Ressourcen." Aufgabe des Strafvollzugs ist die Resozialisierung. Gefangene sollen nach ihrer Entlassung wieder in die Gesellschaft eingegliedert werden und ein Leben ohne Straftaten führen. Doch darauf müssen Inhaftierte vorbereitet werden. &bdquo;Vor der Resozialisierung müssen psychische Erkrankungen behandelt werden. Diese Aufgabe kann der Strafvollzug aber nicht erfüllen, dafür ist der Maßregelvollzug die richtige Adresse", sagt Brunn. Deshalb fordert der BSBD den Schulterschluss mit der Forensik. &bdquo;Anders ist auch die Sicherheit der Allgemeinheit nach der Entlassung der Gefangenen nicht zu gewährleisten, denn wenn die Betroffenen nicht therapiert werden, können sie auch nicht resozialisiert werden." Auch im Maßregelvollzug sind die Ressourcen knapp Doch auch im Maßregelvollzug sind die Ressourcen knapp. Mitunter müssen schwerkranke Menschen in überfüllten Kliniken in Mehrbettzimmern untergebracht, marode Kliniken weiterbetrieben und Patienten in andere Bundesländer verlegt werden, die aber auch kaum Kapazitäten haben. Im Kampf gegen den Mangel an Therapieplätzen hat NRW bereits 2012 den Bau von fünf neuen Einrichtungen für den Maßregelvollzug mit 750 Plätzen beschlossen, nachdem die Zahl therapiebedürftiger Straftäter im Jahrzehnt zuvor um zwei Drittel gestiegen war. Doch die Umsetzung dieser Pläne ist nicht einfach, denn Kommunen und Anwohner wehren sich in vielen Fällen gegen den Bau forensischer Einrichtungen. Erst im November 2019 hat die Stadt Lünen vor dem Oberverwaltungsgericht Münster Pläne der Landesregierung verhindert. Die Folgen sind auch im Strafvollzug zu spüren, denn immer mehr behandlungsbedürftige Straftäter werden im Gefängnis untergebracht und nicht im Maßregelvollzug. &bdquo;Allein die 6.000 Bediensteten im allgemeinen Vollzugsdienst in NRW haben 500.000 Überstunden. Der Krankenstand liegt bei über zehn Prozent. Und in allen Bereichen fehlt Personal. Aktuell sind 550 Stellen nicht besetzt" erklärt Biermann. Zudem steigt die Zahl der Übergriffe auf die Strafvollzugsbediensteten. &bdquo;Dem Strafvollzug werden immer neue Aufgaben übertragen." Die Politik in NRW hat Verbesserungen bereits auf der Agenda. Geplant ist laut Justizministerium für 2021 der Ausbau des Justizvollzugskrankenhauses in Fröndenberg. &bdquo;Für die bisherige Regelbehandlungsstation, die in der Vergangenheit nur teilweise ausgelastet war, steht ein Umbau an. Dann werden weitere acht Akutbehandlungsplätze für männliche Gefangene sowie zwölf Behandlungsplätze für weibliche Gefangene zur Verfügung stehen", erklärt ein Sprecher. Eine Experten-Kommission hat 2019 die Sicherheit in den Justizvollzugsanstalten in NRW überprüft und festgestellt, dass die Situation für psychisch Kranke im NRW-Strafvollzug unzureichend ist. Auch die Kommission empfiehlt, behandlungsbedürftige Gefangene im Maßregelvollzug unterzubringen. &bdquo;Die Landesregierung ist mit der Kommission auf dem richtigen Weg, muss die Maßnahmen jetzt aber dringend umsetzen", fordert Biermann. &bdquo;Dem Strafvollzug werden immer neue Aufgaben übertragen, für die deutlich mehr Personal nötig ist."

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