
Schieder-Schwalenberg. Verwaiste Kinder sollten in einer Familie, anstatt in einem Waisenhaus aufwachsen – das ist die Grundidee, die hinter den SOS-Kinderdörfern steckt, die es heute auf der ganzen Welt gibt. Inzwischen sind die Dörfer in erster Linie ein Zuhause für Kinder, deren Eltern nicht für sie sorgen können – wegen bitterer Armut, familiärer Gewalt oder anderer sozialer Notlagen. Begonnen hat alles in Österreich, wo Hermann Gmeiner am 25. April 1949 den Verein „Societas Socialis" – kurz SOS – gründete. Am heutigen Donnerstag feiern die SOS Kinderdörfer ihren 70 Geburtstag.
Seit mehr als 50 Jahren gibt es auch im Kreis Lippe, genauer gesagt in Schieder-Schwalenberg, ein SOS Kinderdorf. Aktuell leben 58 Kinder und Jugendliche auf dem großzügigen Gelände, das mitten im Grünen liegt. In sechs sogenannten Kinderdorffamilien und drei Wohngruppen haben sie ein Zuhause gefunden. Das Besondere an dem Modell: In je einem eigenen Haus lebt eine „Kinderdorfmutter" über einen langen Zeitraum hinweg mit mehreren Kindern zusammen, ähnlich wie in einer Familie.
Ein Kernthema der Arbeit im Dorf seien Beziehungs- und Bindungsarbeit, erklärt Benjamin Hillemeyer, Bereichsleiter Kinderdorffamilien und Wohngruppen. Das Modell sei nicht auf eine kurzfristige Betreuung, sondern ein langfristiges Zusammenleben ausgelegt. Jede Kinderdorfmutter lebt mit bis zu sechs Kindern und Jugendlichen in einem Haus und betreut die Kinder rund um die Uhr. Unterstützt wird sie von zwei Fachkräften. Voraussetzung für die Rolle der Kinderdorfmutter ist eine Ausbildung zur Erzieherin. Darüber hinaus würden die angehenden Mütter speziell geschult, sagt Hillemeyer.
Vertrauen und ein geregelter Alltag
Vermittelt werden die Kinder über die Jugendämter im Umfeld. Oft haben sie in der leiblichen Familie psychische oder körperliche Gewalt erlebt. Auch psychische Erkrankungen der Eltern und Süchte zählen häufig zu den familiären Hintergründen. Viele der Kinder kommen mit drei oder vier Jahren in das Dorf, einige aber auch erst im Jugendalter. Im neuen Umfeld leben sie in der Regel bis zum 18. Lebensjahr, in manchen Fällen erfolgt zuvor auch eine Rückkehr in die Herkunftsfamilie.
Viele der Kinder würden Entwicklungsdefizite aufweisen, sagt Hillemeyer. Manche seien auch traumatisiert. Im Kinderdorf geht es darum, Vertrauen aufzubauen und einen geregelten Alltag kennenzulernen. Die jüngsten besuchen die dorfeigene Kindertageseinrichtung, ältere gehen in den umliegenden Städten zur Schule oder machen eine Ausbildung. In der Freizeit wird auf der großen Anlage kreative und sportliche Programmpunkte angeboten.
Kontakt zu den leiblichen Eltern wird gefördert
Je nach Bedarf werden die Kinder außerdem von Psychologen, Logopäden und anderen Fachleuten betreut und gefördert. Auch der Kontakt zu den leiblichen Eltern ist Bestandteil der pädagogischen Arbeit und wird gefördert. Derzeit laufen auf dem Gelände in Schieder-Schwalenberg Bauarbeiten, zwei der Häuser werden saniert. Noch in diesem Jahr sollen eine weitere Kinderdorffamilie und eine heilpädagogische Wohngruppe ins Dorf einziehen. Trotzdem gibt es seitens der Jugendämter mehr Anfragen, als das Kinderdorf annehmen kann.
Ins erste SOS-Kinderdorf im österreichischen Imst zogen 1951 40 Kinder mit ihren Kinderdorf-Müttern ein. Heute umfasst die Landkarte der Organisation nicht weniger als 135 Länder: In Uganda beispielsweise werden viele Waisenkinder betreut, die ihre Eltern durch die Immunschwächekrankheit Aids verloren haben. In Syrien kümmert sich die Organisation in drei Kinderdörfern um die vom Krieg Gezeichneten und bemüht sich auch um eine Familienzusammenführung. Aktuell profitieren laut Organisation rund 1,5 Millionen Menschen weltweit von den Programmen.
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