Hintergrund/Kommentar

100 Clans treiben in NRW ihr Unwesen

Polizei und Ordnungsbehörden haben den kriminellen Familien den Kampf angesagt. Inzwischen reagieren die Clans und versuchen, die Beamten einzuschüchtern

Razzia gegen Clans in mehreren NRW-Städten: Innenminister Herbert Reul (r.) bespricht sich mit einem Polizisten. | © picture alliance/dpa

Lothar Schmalen
30.01.2019 | 31.01.2019, 07:18

Düsseldorf. Der Essener Polizeipräsident Frank Richter nimmt kein Blatt vor den Mund. „Ja, inzwischen reagieren die kriminellen Clans und versuchen, unsere Beamten einzuschüchtern." Und dann berichtet Richter davon, dass Polizisten auf dem Weg nach Hause schon einmal von unbekannten Fahrzeugen verfolgt würden. Oder dass vor der Tür des Privathauses von Beamten plötzlich Männer stünden, die sie drei Tage zuvor festgenommen hätten, und ihnen einen „schönen Feierabend" und „weiter Gesundheit" wünschten.

Seit Wochen schreckt die NRW-Polizei die kriminellen Familien-Clans, die vor allem in Großstädten ihr Unwesen treiben, mit größeren Razzien und kleineren Einsätzen immer wieder auf. Innenminister Herbert Reul (CDU) hat sich den Kampf gegen die fast 100 Großfamilien in NRW, die meist aus dem türkisch-kurdischen, libanesischen oder arabischen Raum stammen und die Ermittlungsbehörden mit tausenden von Straftaten seit Jahrzehnten in Atem halten, auf die Fahnen geschrieben. „Die Clans wollen bestimmen, was Recht ist. Das lassen wir nicht zu. Bei uns gilt nicht das Gesetz der Familie, sondern das des Staates", sagt Innenminister Reul am Rande einer Konferenz zum Thema Clankriminalität in Essen.

Kommentar der Redaktion
Nicht nur Innenminister Reul, sondern auch der Essener Polizeipräsident Richter und der Wissenschaftler Rohe legen den Finger in dieselbe Wunde: Dass NRW heute mit fast 100 kriminellen Familienclans zu kämpfen hat, die meinen, sie könnten selbst entscheiden, was Recht und Unrecht ist, hat viel mit Fehlern der Vergangenheit zu tun.
Die meisten der Clans kamen in der 80er-Jahren. Statt eine Chance auf Integration zu erhalten, erfuhren sie eher Diskriminierung. Das sei keine Entschuldigung für Kriminalität, sagt Rohe, aber es mache den Weg in die Kriminalität kürzer. Dazu kommt, dass in den vergangenen Jahrzehnten nicht konsequent genug gegen die kriminellen Strukturen der Familien vorgegangen worden ist. Insofern ist es höchste Zeit, dass Innenminister Reul mobil macht gegen die Clans, die nicht nur mit Prostitution, Betrug, Erpressung und Raub kriminelles Geld verdienen, sondern auch ihre eigene Justiz aufgezogen haben. Hier mit allen Mitteln des Rechtsstaats, mit Razzien und konsequenter Strafverfolgung eine härtere Gangart einzulegen, ist richtig.
Langfristig Erfolg aber wird der Kampf gegen die Clans nur haben, wenn die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholt werden. Gleichzeitig müssen die Familienmitglieder, die sich von den kriminellen Strukturen lösen wollen, deshalb Chancen auf die Integration in ein normales Leben erhalten.

Essen war als Standort ausgewählt worden, weil die Clan-Kriminalität hier besonders ausgeprägt ist. Das Landeskriminalamt (LKA) hat in Essen 1.277 Mitglieder der Kriminellen Clan-Familien gezählt. Dahinter rangieren die Ruhrgebiets-Großstädte Recklinghausen (648), Gelsenkirchen (570), Duisburg (402), Dortmund (399) und Bochum (378). Allerdings ist die Clankriminalität längst auch ins ländliche Westfalen vorgedrungen. „Nahezu jede Kreispolizeibehörde kennt ihre Fälle", sagte Thomas Jungbluth, der Leiter der LKA-Abteilung Organisierte Kriminalität.

Auf drei Säulen beruhe die Strategie im Kampf gegen die Clans, sagte Minister Reul: 1. Mit Razzien und kleineren Einsätzen Unruhe in der Szene stiften 2. die Strafverfahren mit Geduld und Ausdauer bearbeiten; 3. Prävention. Zu letzterem müsse auch ein Aussteigerprogramm gehören, das es allerdings noch nicht gebe, räumte der Innenminister ein. „Daran arbeiten wir noch".

Loyalität von Geburt an

Der Rechts- und Islamwissenschaftler Matthias Rohe von der Universität Erlangen beschrieb die Clans als soziales Phänomen, das nicht nur bei Arabern, Kurden und Türlen auftrete, sondern auch bei Roma und bei Jesiden. Das besondere an den Clans sei, dass die Loyalität, denen sich ihre Mitglieder unterwerfen, nicht selbst gewählt sei. „Die Clanmitglieder werden in sie hinein geboren", betont Rohe. Oft glaubten die Betroffenen auch, sie täten das Richtige. Das sei Ergebnis einer spezifischen Erziehung, die bei Jungen oft Erziehung zur Gewalt sei.

Die Clan-Mitglieder hätten meist Diskriminierungserfahrungen sowohl in ihrem Herkunftsland als auch in Deutschland. „Und sie kommen oft aus Staaten, in denen sie nur durch den Schutz ihrer Clan überlebt haben", so Rohe. Der Wissenschaftler wies aber auch darauf hin, das es in den Clans auch durchaus immer Mitglieder gebe, die ein anständiges und straffreies Leben führten.

Clan-Kriminalität in Zahlen:

Von wegen nur arabische Männer: Jede fünfte Clan-Kriminelle ist eine Frau, sagt Thomas Jungbluth, Chef der Abteilung Organisierte Kriminalität im Landeskriminalamt (LKA).

Das LKA hat für die Jahre 2016 bis 2018 insgesamt 14.225 Straftaten der Clans gezählt, davon allein 5.606 Gewalttaten (26 vollendete und versuchte Tötungsdelikte). In der Statistik stehen außerdem je 2.600 Eigentums- und Betrugsdelikte und rund 1.000 Rauschgiftdelikte.

Unter den 6.449 Tatverdächtigen sind mindestens 381 Intensivtäter, die für mehr als vier Straftaten infrage kommen.

32 Prozent der Clan-Mitglieder sind Libanesen, 15 Prozent Türken, 36 Prozent sind deutsche Staatsbürger.

Allein 2018 sind 15 Verfahren wegen organisierter Kriminalität eingeleitet worden, an denen arabische oder türkische Clans beteiligt sind.