NW-Redakteur im Hafen von Catania: Flüchtlingselend neben Luxusjachten

Catania. "Warte ab, was gleich passiert", sagt Davide und rennt weg. Keine zehn Minuten später rauscht der Aktivist auf einem kleinen Schlauchboot über das Wasser - geradewegs auf das riesige Schiff der sizilianischen Küstenwache zu. Doch bevor er die "Diciotti" erreicht, werden er und seine Mitfahrer von der Polizei aufgehalten. Das große Schiff erreichen sie nicht. Stattdessen halten sie Banner und Fahnen in die Höhe, zeigen den 150 Flüchtlingen an Bord ihre Solidarität. Die waren für einen kurzen Moment aufgesprungen und neugierig an das Geländer gegangen. Seit Montag harren die Migranten auf der "Diciotti" im Hafen der sizilianischen Stadt Catania aus. Das Schiff dürfen sie nicht verlassen, weil Italien das verbietet. Andere Länder sollen die afrikanischen Flüchtlinge aufnehmen, fordert Innenminister Matteo Salvini. Die aber können sich nicht einigen. Und so bleibt den Migranten nichts übrig, als zu warten. Immer wieder laufen sie auf dem Schiff hin und her, wie Tiger in einem viel zu kleinen Gehege. 150 Menschen sind an Bord, darunter elf Frauen. Die Männer verteilen sich in kleinen Gruppen, viele haben ein Handtuch über dem Kopf. Die Sonne sticht unermüdlich, Wind geht kaum. Die sizilianische Flagge an der Spitze des Schiffs hängt trostlos hinab. Rund 500 Meter weiter stehen Davide und mehrere Aktivisten nach ihrer Schlauchbootfahrt wieder zusammen, um für die Freiheit der Flüchtlinge zu demonstrieren. Es ist eine kleine Gruppe, kaum 100 Leute. "Auch in Sizilien werden Urlauber irgendwann sehen, dass Leichen an die Strände gespült werden" Die "Diciotti" sehen sie nur aus der Ferne. Das Schiff der Küstenwache liegt nur 100 Meter entfernt von edlen, weißen Jachten. Deren Besitzer aber bleiben fern. Das Gelände ist weiträumig abgesperrt. Die Polizei kontrolliert scharf. Bloß nicht zu viel Aufmerksamkeit erzeugen, die Devise. Und dennoch gehen die Bilder der festgehaltenen Bootsflüchtlinge längst um die Welt. "Wir haben gestern im Fernsehen gesehen, das 27 Kinder und Jugendliche das Schiff verlassen durften; die anderen aber bleiben müssen. Deshalb sind wir heute hier", sagt Klaus Lüchau. Eigentlich macht der Bayer mit seiner Ehefrau Gabi Urlaub. Doch die Stimmung ist ihnen vergangen. Jetzt wollen sie sich selbst ein Bild machen. Und? "Es schockiert mich, die Flüchtlinge aus nächster Nähe zu sehen", sagt Lüchau. "Wir können nicht mehr länger wegschauen. Auch in Sizilien werden Urlauber irgendwann sehen, dass Leichen an die Strände gespült werden", sagt der 56-Jährige. Gefreut hat er sich, als er von den Vorstößen einiger NRW-Bürgermeister hörte, die mehr unbegleitete minderjährige Flüchtlinge aufnehmen wollen. Darunter auch Bielefelds Oberbürgermeister Pit Clausen. "Das wird Wellen schlagen und weiteren Bürgermeistern die Augen öffnen", glaubt Lüchau. Doch wie lange wird das noch dauern? Verheerende Zustände an Bord Mittlerweile ist es Mittag. Auf der "Diciotti" herrscht Bewegung. Mitarbeiter der italienischen Behörden mischen sich unter die Flüchtlinge. Sie tragen weiße Kittel, weiße Kapuzen, weißen Mundschutz. Sie sollen prüfen, ob sich auf dem Schiff Krankheiten ausbreiten. Staatsanwalt Luigi Patronaggio hatte nach einem Besuch auf dem Boot von "verheerenden Zuständen" gesprochen. Einer der in weiß gekleideten Mitarbeiter rudert wild mit den Armen durch die Luft, macht einem der Flüchtlinge deutlich, dass er sich nicht so weit über das Geländer lehnen soll. Der schaut den Behördenmann regungslos an, blickt durch ihn hindurch. In seinem Gesicht ist nichts: keine Hoffnung, keine Angst, keine Freude. Der junge Mann blickt wie ein Tier im Zoo, das von Besuchern beobachtet und fotografiert wird. Was mag in ihm vorgehen? Empörung bei den Helfern Giorgia Linardi verfolgt die Szene und schüttelt den Kopf. Die Sprecherin der Initiative Sea Watch Italy hat Zutritt zum Pressebereich. Eine Ausnahme. Geschätzte 80 Meter trennen Giorgia jetzt vom Schiff. Minutenlang sitzt sie einfach nur da. Als sie dann doch über ihre Wut spricht, funkeln ihre Augen. "Natürlich muss sich die EU einigen und Italien helfen. Aber eine Entscheidung können die Politiker doch nicht auf offener See austragen", sagt die Flüchtlingshelferin und fragt: "Wieso dürfen die Flüchtlinge nicht wenigstens an Land kommen?" Sie bewundere, wie ruhig und stark die Menschen auf dem Schiff seien. Keine Spur von Aggression oder Unruhe - und das, obwohl sie eingesperrt würden und nachts zum Teil sogar auf offenem Deck schliefen, sagt die junge Frau. "Niemand von uns würde aushalten, was sie erlebt haben." Wie lange das noch so weitergeht? Sie wisse es nicht. Immerhin sei Italiens Politiker Riccardo Magi schon seit zwei Stunden zu einem Gespräch mit dem Kapitän auf dem Schiff. "Wenigstens reden sie jetzt miteinander." Für überflüssig hält das hingegen Barkeeper Cosimo Munzone, der direkt am Hafen ein Bistro betreibt: "Ich würde alle von denen wieder zurück schicken. Italien kann doch nicht jeden aufnehmen. Es kommen viele Terroristen." Während Politiker Magi, die Männer mit den weißen Kitteln und Polizisten das Schiff am Nachmittag wieder verlassen, müssen die 150 Flüchtlinge weiter ausharren. Für sie bleibt die sieben Meter lange weiße Treppe, die vom Schiff aus auf das Hafengelände führt, ein Tabubereich. Es sind nur sieben Meter bis zum europäischen Festland - doch das bleibt für sie noch immer unerreichbar.

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