
Bielefeld. Irith Michelsohn, Vorsitzende der jüdischen Kultusgemeinde Bielefeld, spricht im Interview über die Probleme jüdischer Kinder und den wachsenden Antisemitismus.
Frau Michelsohn, der Antisemitismus tritt wieder stärker in Erscheinung. Ein Schüler aus Berlin wurde beschimpft, im Internet wird gehetzt. Gibt es solche Fälle auch in Bielefeld?
Irith Michelsohn: Im direkten Umfeld unserer Gemeinde in den letzten Monaten nicht. Es war jedoch so, dass Jugendliche in der Öffentlichkeit beleidigt wurden, weil sie eine Kippa – eine Kopfbedeckung – oder eine Kette mit einem Davidstern trugen. Unsere Gemeinde hat dann ein Gespräch mit den betreffenden Gemeindemitgliedern geführt und gebeten, in der Öffentlichkeit keine jüdischen Symbole wie Kippa oder eine Kette mit Davidstern zu tragen. Ein anderes Mal wurde ein Mädchen in der Bahn nach Schildesche von Schülern beschimpft. Es war in der Gruppe wohl bekannt, dass sie jüdisch ist.
Wie steht es um die Sicherheit?
Michelsohn: In den vergangenen Monaten ist nichts passiert. Bielefeld ist bis jetzt für uns Juden eine sichere Stadt. Wir fühlen uns von der Polizeibehörde gut beschützt. Allerdings ist man in Deutschland vorsichtiger geworden, sich als Jude zu outen. Zum Beispiel in dem man eben die entsprechende Kopfbedeckung nicht aufsetzt.
In der Partei AfD kam es wiederholt zu antisemitischen Äußerungen. Wie gefährlich ist so eine Partei?
Michelsohn: Ich sehe eine Bedrohung von der AfD und dem rechten politischen Flügel. Wenn eine Partei jetzt gegen Ausländer und Muslime ist, ist sie im nächsten Zug vielleicht gegen Juden. 96 Prozent unserer Gemeindemitglieder sind Zuwanderer, die das Parteiensystem nicht genau kennen. Ich empfehle ihnen immer, die Parteien richtig kennenzulernen, sich zu informieren, bevor sie sie wählen. Diese politische Aufklärung ist aber eine Herausforderung aller Gemeinden vor der kommenden Bundestagswahl.
Es ist derzeit zu hören, dass junge Erwachsene fordern, einen „Schlussstrich" unter den Holocaust im Zweiten Weltkrieg zu ziehen...
Michelsohn: Das darf nicht vergessen werden. Die Enkelgeneration trägt zwar keine Schuld mehr, aber wenn man einen Menschen politikoffen erziehen will, darf man nicht vergessen, sondern auch die Vergangenheit mit einbeziehen. Auch im Hinblick darauf, wie viel Gewalt und Vernichtung es auf der Welt gibt, muss immer wieder an die Shoa erinnert werden, damit Verfolgung aufgrund von Religion, anderer Hautfarbe, sexueller Orientierung nie mehr geschieht. Überlebende der Shoa (nationalsozialistischer Völkermord an den Juden Europas), beziehungsweise Nachkommen von Ermordeten oder Überlebenden, werden nie vergessen, was ihren Familien angetan wurde. Und jemand, der Verfolgung überlebt, kann diese nicht einfach abhaken.
Wie kann der Holocaust öffentlich aufgearbeitet werden?
Michelsohn: Es gibt heute zwar ein gegenwärtiges, aktives Judentum, aber dazu gehört auch immer das Gedenken. Von Bielefeld aus gab es neun Deportations-Züge. Am Tag zum Gedenken an die Shoa, dem Yom haShoa im April, haben wir in Bielefeld erstmalig die 1.935 Namen der ermordeten Deportierten aus Bielefeld verlesen. „Jede Ermordete, jeder Ermordete hat einen Namen." Holocaustleugner wie Frau Haverbeck sind nicht zu verstehen, denn woher sollten sonst die zahlreichen Dokumente, Fotos, und Filme kommen. Auch die Orte des Todes, wie die Konzentrations- und Vernichtungslager, sind Beweise des unsäglichen Leidens und Todes.
Was sagen Sie zu den erst jetzt laufenden Prozessen gegen Verantwortliche in der NS-Zeit?
Michelsohn: Im Fall um den SS-Wachmann Hanning frage ich mich, warum es Jahrzehnte dauerte, bis jemandem wie ihm der Prozess gemacht wird. Wie konnte dieser Mann 70 Jahre in Ruhe mit seiner Familie leben und diese Morde mit sich herumtragen? Nein, die Shoa ist ein Teil der deutschen Geschichte und gehört zu diesem Land, der nicht abgehakt werden kann. Nicht für die, die noch leben und nicht für die, die ermordet wurden.
Es gibt zunehmend mehr Menschen, die die israelische Politik mit dem Judentum gleichsetzen...
Michelsohn: Das haben wir in Bielefeld 2014 gespürt. Als es zum Konflikt im Gazastreifen kam, gab es Schmierereien an unseren Wänden: „Kindermörder" stand da.
Im Mai gab es in Düsseldorf ein Treffen jüdischer Schüler mit Rogel Rachmann, einem Gesandten der Botschaft in Berlin. Die Schüler berichteten, sie würden in der Schule immer wieder auf die israelische Politik angesprochen oder werden gebeten, darüber Referate zu halten. Was bedeuten solche Fragen für die Kinder?
Michelsohn: Die Schüler verzweifeln, wenn sie immer wieder danach gefragt werden. Unter anderem aus solchen Gründen melden Eltern ihre Kinder bewusst für den evangelischen Religionsunterricht an und machen nicht öffentlich, dass sie Juden sind. Warum wird die israelische Politik immer mit uns Juden in der Diaspora in Verbindung gebracht? Warum meinen Lehrer, dass sie jüdische Schüler dazu „benutzen" können Stellung zur israelischen Politik zu beziehen? Ein jüdischer Schüler in Deutschland ist ein Schüler wie jeder andere Schüler – gleich welcher Nationalität – in Deutschland und nicht ein Schüler, der den Staat und die Politik Israels kennen und verstehen muss. Ich finde es verantwortungslos, den Schülern zuzumuten sich vor einer Klasse, die sich aus verschiedenen Kulturkreisen und Religionen zusammensetzt, referieren zu lassen.
Michelsohn: Erst einmal muss klar sein, dass die Menschen in Israel Menschen sind und keine Politiker. Jeder hat eine andere Meinung und der Alltag dort wird durch die gleichen Dinge bestimmt, wie hier. Ich rate, wem es möglich ist, Kontakt mit einer Familie in Israel zu pflegen. Erst durch langjährige Kontakte und durch zahlreiche Besuche lernt man Israel lieben und kennen. Dabei sollte die Politik nicht im Vordergrund stehen, sondern immer der Mensch.Zahlreiche Überlebende der Shoa, die heute noch im Staat Israel leben, sind nach mehr als 70 Jahren nach Kriegsende bereit zu reden und zwar nicht nur über das Grauen des Nationalsozialismus, sondern über den Aufbau des Staates Israel und seine Demokratie.
INFORMATION
Zur Person
Irith Michelsohn wurde in Tel Aviv geboren und ist in Franken aufgewachsen.
Von 1999 bis 2010 war sie Vorsitzende der Jüdischen Kultusgemeinde in Bielefeld, 2013 wurde sie in dieses Amt wiedergewählt.
Seit 2003 ist Irith Michelsohn Geschäftsführerin der Union progressiver Juden in Deutschland und des Landesverbandes Jüdischer Gemeinden in Nordrhein-Westfalen.