Chef der Bertelsmann-Stiftung: „Wir brauchen mehr Mut und Zuversicht“

Herr Heck, wie schätzen Sie als Vorstandsvorsitzender der Bertelsmann-Stiftung den Zustand der Demokratie in Deutschland ein? Ralph Heck: Es gibt derzeit eine wahrgenommene Verunsicherung in der Bevölkerung, die adressiert werden muss. Wir als Bertelsmann-Stiftung haben es uns zur Aufgabe gemacht, die Teilhabe in der Gesellschaft zu fördern. Wir wollen engagierte und eigenverantwortlich handelnde Menschen und eine Gesellschaft, die ihnen Chancen eröffnet. Dabei agieren wir politisch unabhängig und stellen die Gesellschaft in den Fokus unserer Arbeit. Wie erklären Sie sich die Verunsicherung? In der Nachkriegszeit kannte Deutschland nur eine Richtung – aufwärts. Wir haben zunehmenden Wohlstand und eine lange Zeit des Friedens in Europa erlebt, wenn man vom Balkankrieg absieht. Die Wiedervereinigung war eine glückliche geschichtliche Fügung, die Deutschland erfolgreich gemeistert hat. Dann, ab dem Jahr 2020, wurde alles anders mit multiplen, fundamentalen Krisen in kurzer Zeit. Eine weltweite Pandemie, dann der Überfall Russlands auf die Ukraine und damit Krieg in Europa, mit der Folge einer Energiekrise, Inflation und Zinsanstieg. Und erst kürzlich brach der Nahostkonflikt erneut aus – das waren und sind Probleme, die tief in die Bevölkerung eingedrungen sind. Ein Dauer-Schock-Erlebnis also. . . . . .ja, und wenn wir in die Zukunft schauen, dann sehen wir die Chancen und Herausforderungen der künstlichen Intelligenz. Die Diskussion über Nachhaltigkeit und Klimawandel dauert an. Es stehen viele Fragezeichen im Raum, auch wirtschaftspolitisch. Deutschland verliert gerade seinen Status als führende Export-Nation und die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt lässt komplizierte Zeiten erahnen. Diese Konfliktlagen spüren die Menschen, sie lösen Verunsicherung aus. Was können wir dagegen tun? Die Politik versucht, diese Herausforderungen auf einer sachpolitischen Ebene zu lösen. Das allein reicht aber nicht, denn die Probleme werden auf einer emotionalen Ebene wahrgenommen. Wir brauchen in der Gesellschaft mehr Mut und Zuversicht. Wir sind also eine Jammer-Generation? Nein, unsere Studien zeigen einen hohen Zusammenhalt, die Gesellschaft ist nicht gespalten. Es gibt viel Gutes in Deutschland, viele Bürger packen mit an – zum Beispiel im Ehrenamt. Dies verdient mehr Anerkennung und Unterstützung. Und diese positive Energie im Land muss stärker gebündelt werden. Viele gute Einzelinitiativen könnten dann noch mehr Wirkung entfalten. Die Politik kann das allein nicht bewältigen. Wer dann? Es sind alle Gesellschaftsgruppen gefordert und wir als Stiftung wollen dazu auch einen Beitrag leisten, indem wir unsere Arbeit im Jahr 2024 unter das Motto &bdquo;Demokratie stärken!“ stellen. Wir sind überzeugt, dass die Demokratie effizienter, bürgernäher und stärker werden muss. Dazu entwickeln wir Vorschläge, insbesondere zur besseren Beteiligung der Bürger im Land. Wir wollen die Idee der freien und gerechten Gesellschaft mit Leben füllen. Die Medien spielen hier auch eine wichtige Rolle. Sie könnten das Positive viel stärker transportieren und nicht das Negative. Auch die Politik sollte weniger aus parteipolitischen Interessen agieren, sondern das Gemeinwohl in den Mittelpunkt ihres Handelns stellen und das auch intensiver kommunizieren. Ist das ein parteiübergreifender Zukunftskonsens, den Sie da fordern? Eine liberale Demokratie lebt von der Diskussion. Das ist ihre Stärke. Sie braucht aber auch Management und Führung. Und sie braucht Wahrhaftigkeit. Hier setzen wir als Stiftung an. In diesem Jahr steht für uns der Einsatz gegen Desinformation im Fokus. Weil gefälschte politische Inhalte und Aussagen, die über das Internet und die sozialen Medien verbreitet werden, das Vertrauen in die Demokratie massiv untergraben können. Deshalb widmet die Stiftung den Reinhard-Mohn-Preis 2024 dem Thema &bdquo;Demokratie stärken – Desinformation begegnen“. Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, hat jüngst gesagt, vielleicht sei die westliche Demokratie historisch nur eine Übergangsphase Die liberale Demokratie muss sich weiterentwickeln, wenn sie nicht nur ein Übergangssystem sein möchte. Die Demokratie wird in ihren Eigenheiten von Debatten und Konsensfindung durch unsere schnelllebige Zeit besonders herausgefordert. Und je mehr Krisen zu bewältigen sind, desto stärker suchen die Menschen nach Sicherheit und Führung. Das ist ein Nährboden für Populismus, wenn die Demokratie diese Sicherheit nicht bieten kann. Wie kann die Politik, wie ?kann die Gesellschaft dieser Entwicklung entgegentreten? Deutschland braucht eine konsistente Zielorientierung. Klimaneutralität zum Beispiel reicht da nicht aus. Was ist mit dem zukünftigen Arbeitsmarkt, wenn diesen in den nächsten zehn Jahren circa drei Millionen Erwerbspersonen verlassen? Und welche bahnbrechenden Technologien werden gesellschaftlich priorisiert, damit wir nicht von Amerika dominiert werden. Wie schaffen wir es, unser Bildungssystem schneller an die Bedürfnisse der heutigen Zeit anzupassen und Bildung als Wettbewerbsvorteil im weiteren Sinne zu erhalten? Zu diesen Fragen braucht es eine klare, integrierte Perspektive, die breit von der Gesellschaft getragen wird und einen Plan, der gesellschaftlich kommuniziert, verstanden und beharrlich verfolgt wird. Was bedeutet das für die nachwachsenden Generationen? Wohlstand ohne Leistung wird auch für die nächste Generation nicht funktionieren. Aber die ökonomischen und sozialen Verhältnisse und die Erwartungen an Lebensweisen sind komplizierter und heterogener geworden und machen es Jugendlichen viel schwieriger, ins Leben zu finden. Nehmen Sie allein die heute fast unendliche Vielzahl an Berufsmöglichkeiten. Wie soll sich da ein Jugendlicher entscheiden – nicht einfach. Wer kann diese Herausforderung lösen? Das wird diese Generation am Ende selbst lösen, davon bin ich überzeugt. Wichtig ist nur, dass die Herausforderungen einer nachhaltigen Zukunftsgestaltung ehrlich und offen kommuniziert werden. Kennt man die Hürden, ist es leichter, darüber zu springen.

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