Gewerkschaft kritisiert Lieferando: Fahrer setzen Gesundheit aufs Spiel

Bielefeld. Wer selbst oft mit dem Zweirad unterwegs ist, der kennt sie schon - die neue Gefahr auf Straßen und Radwegen durch gehetzte Fahrrad-Kuriere. Die Gewerkschaft NGG (Nahrung, Genuss, Gaststätten) hat das Phänomen unter die Lupe genommen und kritisiert die Mechanismen des Liefer-Systems. Die NGG stellt einen Anreiz zur Akkordarbeit für die Fahrer fest: Denn um über den Einstiegsverdienst von nur zehn Euro pro Stunde hinauszukommen, müssten die Beschäftigten möglichst viele Bestellungen in möglichst kurzer Zeit ausliefern. Ab der 25. Bestellung zahle der Essenslieferdienst Lieferando 25 Cent Zuschlag je Auftrag, von der 100. Lieferung an gebe es einen Euro mehr: "Dieses System führt zu großem Stress bei den Fahrern, die jede rote Ampel wertvolle Zeit kostet", stellen die Gewerkschafter in einer gemeinsamen Stellungnahme fest, darunter auch NGG-Regionalgeschäftsführerin Gaby Böhm (Region Bielefeld-Herford). "Um schnell voranzukommen, setzen die Fahrer häufig ihre Gesundheit aufs Spiel." Die Gewerkschaft listet eine ganze Reihe von Kritikpunkten an den Arbeitsbedingungen auf. Ganz vorne steht die Kritik an der mageren Bezahlung, obwohl Marktführer Lieferando angesichts geschlossener Restaurants derzeit glänzende Geschäfte mache: "Die Fahrerinnen und Fahrer, die bei jedem Wetter unterwegs sind, arbeiten zu Niedriglöhnen und teils am Rande der Belastungsgrenze", so Böhm und ihre Mitstreiter. Manche Fahrer nutzen eigene Räder und eigene Handys Dabei werde der Arbeitsschutz nicht ernst genug genommen: Die gestellten Elektro-Fahrräder seien häufig nicht richtig gewartet und nur bedingt verkehrssicher. Manche Kuriere nutzten auch eigene Fahrräder, die dann ebenfalls nicht auf ihre Sicherheit überprüft seien, ergänzt NGG-Gewerkschafter Thorsten Kleile. Für Reparaturen der eigenen Räder müssten die Fahrer zudem meistens selbst aufkommen. Kleile kennt in OWL auch den Fall, dass ein Liefer-Fahrer das eigene Handy für den Job einsetzen musste: "Ohne Mobiltelefon kann man die Arbeit nicht leisten - aber wer haftet zum Beispiel, wenn es bei der Arbeit kaputt geht?" Unzureichende Angebote für Corona-Tests In anderen Regionen Deutschlands gebe es zudem die Beobachtung, dass Lieferando seinen Fahrern nur unzureichende Angebote für Corona-Tests macht, die wegen des regelmäßigen Kundenkontakts eigentlich notwendig seien. Die Corona-Testverordnung schreibe zwei kostenlose Tests pro Woche vor. Angesichts der zum Teil prekären Arbeitsbedingungen fordert die Gewerkschaft Beschäftigte dazu auf, im Problemfall bei der NGG Rat zu suchen. Es könne nicht sein, dass Essenslieferdienste als Gewinner der Corona-Krise ihre Geschäfte auf dem Rücken der Beschäftigten machten. Gaby Böhm fordert faire Löhne, bessere Arbeitsbedingungen und die Möglichkeit zur Gründung von Betriebsräten: Je mehr Fahrerinnen und Fahrer sich für ihre Belange einsetzten, desto schneller könnten Tarifverträge für die Lieferbranche ausgehandelt werden. Lieferando widerspricht: Lohn liegt über dem Mindestlohn Lieferando-Sprecher Oliver Klug widerspricht den Vorwürfen: "In Deutschland sind Fahrer sowohl durch Betriebsräte als auch weitere Formen der Mitarbeiterbeteiligung eingebunden." Lieferando stelle alle seine Fahrerinnen und Fahrer regulär an, zahle Lohnfortzahlungen im Krankheitsfall sowie bezahlten Urlaub und Sozialabgaben. "Im Durchschnitt verdienen die Fahrerinnen und Fahrer mehr als 12 Euro pro Stunde und fahren dafür fünf Kilometer pro Stunde." Selbst der Stundenbasislohn von 10 bis 11 Euro liege da klar über der Mindestlohngrenze, so Klug. "Als regulär Angestellte erhalten die Fahrer auch die Boni-Auszahlung als Teil ihrer monatlichen Lohnauszahlung. Aufgrund der Bonusermittlung kommt es für Lieferando-Fahrer deshalb nicht darauf an, möglichst schnell möglichst viele Aufträge auszuführen", sagt er. Viele Kuriere bevorzugen ihr eigenes Fahrrad "Vielmehr setzt das System einen Anreiz, nicht nur als Minijobber ein paar wenige Stunden pro Monat zu arbeiten." Im Gegensatz zur Bezahlung pro Auftrag erlaube dieses Beschäftigungsmodell so einen fairen Verdienst bei einer sicheren Fahrweise, sagt der Lieferando-Sprecher. Deshalb würden auch acht von zehn Fahrern ihren Job bei Lieferando weiter empfehlen, international sogar noch deutlich mehr, sagt Klug. Die Sicherheit der Fahrer sei sehr wichtig, deshalb würden die von Lieferando gestellten Fahrräder ständig professionell gewartet - ohne Aufwand oder Kosten für die Fahrer. "Fahrer, die ihr eigenes Fahrrad nutzen, erhalten eine Verschleißpauschale von 14 Cent pro gefahrenem Kilometer - das wird vertraglich festgehalten", sagt Klug. Manche Fahrer bevorzugen die Nutzung ihres eigenen Fahrrads, beispielsweise um direkt von zuhause aus starten zu können. Lieferando folgt der Verordnung mit rund 4.000 Antigen-Tests pro Woche für seine Fahrer in Berlin. Bundesweit werde die Bereitstellung von Selbsttests aktuell noch weiter ausgerollt.

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