Großbritannien

Was ein No-Deal-Brexit für Deutschland bedeuten würde

Deutsche Unternehmen horten seit längerem Material und Ersatzteile, weil Lieferketten zusammenbrechen könnten. Auch Touristen müssten mit Konsequenzen rechnen, nicht nur mit schlechten

Eine Anti-Brexit-Demonstration in London. | © Reuters/Henry Nicholls

Christian Kerl
03.09.2019 | 03.09.2019, 09:22

Brüssel. Das Chaos ist also nur vertagt. Ein ungeregelter EU-Austritt Großbritanniens am 31. Oktober wird immer wahrscheinlicher. Der No-Deal-Brexit bedeutet für Deutschland neue Milliardenlasten, zehntausende Jobs stehen auf dem Spiel, es drohen Probleme für Reisende und Engpässe bei Medizinprodukten.

Im britischen Unterhaus wird die Opposition ab Dienstag zwar noch versuchen, einen No-Deal-Brexit zu verhindern, aber die Chancen stehen schlecht. In Brüssel wird mit dem Schlimmsten gerechnet. EU-Chefunterhändler Michel Barnier: „Für Großbritannien kommt jetzt die Stunde der Wahrheit". Aber auch für viele Deutsche wird es ernst, wenn Großbritannien tatsächlich ohne Abkommen über Nacht zu einem Drittstaat wird. Worauf müssen wir uns einstellen?

Reisen: Kein Visum, mehr Kontrollen – und billiger
Wer für Kurzaufenthalte (90 Tage innerhalb von 180 Tagen) nach Großbritannien reist, braucht weiterhin kein Visum. Das hat London zugesichert, im Gegenzug soll Visafreiheit für Briten in der EU gelten. Wie bisher reicht der Personalausweis, sicherheitshalber sollte man einen Reisepass mitnehmen. Reisende müssen sich aber auf lange Wartezeiten wegen der Zollkontrollen einstellen. Und: Die europäische Krankenversicherungskarte EHIC gilt nicht mehr auf der Insel. Autofahrer brauchen die grüne Versicherungskarte. Das drohende Chaos im Flugverkehr ist wohl abgewendet, Flüge zwischen EU und Großbritannien sind nach jetzigem Stand vorübergehend gesichert. Noch besser für Touristen: Das britische Pfund sinkt seit Monaten – und wird weiter nachgeben. Reisen auf die Insel und Shopping in London werden damit günstiger.

Probleme, wenn man länger bleiben will
Bei längeren Aufenthalten (etwa für Arbeitnehmer oder Studenten) auf der Insel wird es kompliziert. Für EU-Bürger endet die bisherige Personenfreizügigkeit. Details der künftigen Regelungen lässt die britische Regierung offen, aber wahrscheinlich wird in der Regel ein Visum erforderlich. Die über 300.000 Deutschen, die schon in Großbritannien leben, müssen bis Ende 2020 einen Aufenthaltstitel beantragen.

Zollchaos an den Grenzen
Beim ungeregelten Brexit müssen EU und Großbritannien über Nacht Zollkontrollen einführen, das verlangen die Regeln der Welthandelsorganisation. Trotz aller Vorbereitungen, ein Chaos beim Güterverkehr an den Grenzen ist sicher – mit Riesen-Staus und tagelangen Wartezeiten. Die britische Regierung erwartet Versorgungsengpässe, hat bereits Schiffe und Flugzeuge für Nottransporte gechartert. Deutsche Unternehmen horten seit längerem Material und Ersatzteile, weil Lieferketten zusammenbrechen könnten, berichtet der Deutsche Industrie- und Handelstag (DIHK). Er rechnet mit drei Milliarden Euro jährlich an Zöllen, die deutsche Firmen für Exporte auf die Insel entrichten müssen. Dazu kommen 200 Millionen Euro für die Zollformalitäten.

Einkommenseinbußen auch in Deutschland
Ein Chaos-Brexit wird vor allem der Wirtschaft in Großbritannien schaden – aber auch Deutschland und die anderen EU-Staaten müssen sich auf gewisse Wohlstandsverluste einstellen, da sind sich alle Experten einig. Großbritannien war bislang Deutschlands fünfwichtigster Handelspartner. Jetzt wird der Handel teurer, Investitionen bleiben aus - das kostet Wachstum (zwischen 0,3 bis 0,7 Prozent laut Studien). Der DIHK erwartet, dass die deutschen Exporte auf die Insel schon in diesem Jahr um zehn Prozent einbrechen. Die Bertelsmann Stiftung hat ausgerechnet, dass der harte Brexit den Deutschen jährlich bis zu zehn Milliarden Euro Einkommensverluste bescheren könnte: Die Wirtschaftsleistung werde bundesweit um 115 Euro pro Kopf sinken, überdurchschnittlich stark in Nordrhein-Westfalen, Bayern und Hamburg. Der Brexit ist Gift für die ohnehin schwächelnde Konjunktur. Aber viel hängt davon ab, wie schnell EU und Großbritannien ein Handelsabkommen vereinbaren könnten.

100.000 Jobs sind in Gefahr
Rund 750.000 Arbeitsplätze hängen laut DIHK vom Handel mit Großbritannien ab. Eine neue Studie des Leibnitz-Instituts für Wirtschaftsforschung (IWH) sieht mehr als 100.000 dieser Jobs wegen des Brexits in Gefahr, vor allem in der Autoindustrie und bei Technologiekonzernen. „In keinem anderen Staat ist der Effekt auf die Gesamtbeschäftigung so groß wie in Deutschland", so das Institut.

Mehrkosten für die Steuerzahler
Wenn London tatsächlich Ende Oktober alle Zahlungen in den EU-Haushalt sofort einstellt, müsste die Bundesregierung aus Steuermitteln bis Ende 2020 wohl bis zu vier Milliarden Euro mehr nach Brüssel überweisen als bisher eingeplant.

Studenten-Stipendien laufen weiter
Wer schon vor dem Brexit seinen Aufenthalt in Großbritannien mit Erasmus-Stipendium begonnen hat, bekommt die Förderung weiter bezahlt. Bafög gibt es weiter für Aufenthalte von bis zu einem Jahr. Studienleistungen in Großbritannien bleiben anerkannt.

Medizinprodukte könnten knapp werden
Großbritannien ist ein wichtiger Produktionsstandort für medizinische Produkte. Das wird jetzt zum Problem: Vor allem Produkte wie Pflaster, Spritzen und Teststreifen etwa für Blutproben stehen in Deutschland und den anderen EU-Staaten womöglich erst mal nicht mehr ausreichend zur Verfügung, so eine offizielle Warnung der EU-Kommission. Denn viele Produkte verlieren durch den ungeregelten Brexit ihre Zulassung für den europäischen Markt, die Genehmigungsverfahren brauchen Zeit.