Detmold

Auschwitz-Prozess: Nebenkläger-Anwalt hält Reue für unecht

Thomas Walter und Cornelius Nestler stellen in ihren Plädoyers keine konkreten Strafanträge gegen den 94-jährigen ehemaligen SS-Wachmann Reinhold Hanning

Bereiten sich vor: Die Anwälte der Nebenklage, Cornelius Nestler (links) und Thomas Walther, studieren im Gerichtssaal in der Industrie- und Handelskammer zu Detmold ihre Unterlagen. | © dpa

28.05.2016 | 08.06.2016, 16:06
Dort geht es lang: Ein Polizeibeamter weist Ursula Haverbeck-Wetzel den Weg zu ihrem nummerierten Zuschauerplatz. - © dpa
Dort geht es lang: Ein Polizeibeamter weist Ursula Haverbeck-Wetzel den Weg zu ihrem nummerierten Zuschauerplatz. | © dpa

Detmold. Mit einem sehr emotionalen, 17 Seiten langen Plädoyer hat der Kemptener Anwalt Thomas Walther, Vertreter von 26 Nebenklägern im Detmolder Auschwitz-Verfahren gegen den ehemaligen SS-Wachmann Reinhold Hanning aus Lage, viele Zuhörer im Saal der Industrie- und Handelskammer berührt.

Für Unruhe sorgte die Holocaust-Leugnerin Ursula Haverbeck, die den Prozess am Freitag im Gerichtssaal verfolgte. 

Thomas Walther machte deutlich, dass er die Aussagen des 94-Jährigen, die dieser Ende April gemacht hatte, nicht glaube: „Das passt alles nicht." Einen konkreten Strafantrag stellte er ebenso wenig wie sein Kollege Cornelius Nestler.

Er ermunterte Hanning, sein „letztes Wort" zu nutzen, das jedem Angeklagten nach Abschluss aller Plädoyers zusteht, um seine „tatsächliche innere und äußere Beteiligung an den Verbrechen zu schildern".

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Kommentar von Dirk-Ulrich Brüggemann:

Wie verbohrt muss Ursula Haverbeck eigentlich sein, dass sie die Stirn hat, sich als Zuschauerin in den Gerichtssaal zu setzen? Oder will die Holocaust-Leugnerin nur provozieren? Die Luft im Gericht kochte, Einsatzpolizisten mussten erstmals an der Verhandlung teilnehmen und richteten eine Videokamera auf die 87-Jährige. Leider lässt das deutsche Recht nicht zu, jemandem wie Haverbeck den Zutritt zum Auschwitz-Prozess zu verweigern.

Walther erinnerte daran, dass Hanning in seiner von seinem Verteidiger Johannes Salmen verlesenen Erklärung seine Stiefmutter als treibende Kraft für seine freiwillige Bewerbung bei der SS im Jahre 1940 genannt hatte. „Er versteckt sich geistig hinter einer bösen, intriganten Nazi-Stiefmutter."

Oberstaatsanwalt fordert sechsjährige Freiheitsstrafe

Was seine Funktion in Auschwitz angehe, habe er sich eher als „unbeteiligter Zuschauer" gesehen: „Obwohl er zwei Jahre als Unterführer die Aufgabe erfüllte, die volksdeutschen Wachmänner der 3. Kompanie im ,Herzzentrum’ der Mordmaschinerie tagtäglich zu führen." Hannings Schilderungen, als Zugführer lediglich mit drei bis vier SS-Männern die Häftlinge bei Arbeitskommandos bewacht zu haben, hält er ebenfalls für gelogen. Ein Zug innerhalb einer Kompanie habe schließlich 30 bis 40 Mann umfasst.

Oberstaatsanwalt Andreas Brendel hatte am vorherigen Prozesstag eine sechsjährige Freiheitsstrafe gefordert. Strafmildernd hatte er Hannings Reue einfließen lassen. Diese Reue hält Nebenkläger-Vertreter Walther für eine Farce: „Hanning bereut, einer verbrecherischen Organisation angehört zu haben. Hanning steht aber nicht wegen Mitgliedschaft in der SS vor Gericht." Bewusst habe der Angeklagte nur von „Tod", nicht von „Mord" gesprochen und die wahren Abläufe und seine eigene Verantwortlichkeit verschleiert.

Den Großteil der zweistündigen Verhandlung – länger ist der 94-Jährige nicht verhandlungsfähig – hatte Walthers Plädoyer eingenommen. Darin schilderte er auch die „zwei Gesichter" des Reinhold Hanning. Immer, wenn Überlebende als Zeugen ausgesagt hätten, habe er „konsequent in einer 45-Grad-Stellung schräg nach unten" geschaut. Seine jüdischen Mandanten hätten dies als erneute Missachtung ihnen gegenüber gewertet.

Krasse Gegensätze zwischen Familienschicksalen

„Das zweite Gesicht zeigte Hanning erstmals, als nicht ein Überlebender, sondern der Zeuge Stefan Willms vom Landeskriminalamt über die Karriere des Angeklagten bei der SS sprach", so Walther weiter. Da sei er plötzlich hochinteressiert gewesen.

Am Beispiel des Holocaust-Überlebenden und Zeugen Max Eisen schilderte Walther die krassen Gegensätze der Schicksale von Hannings und Eisens Familien: Während die Mutter und die drei jüngeren Geschwister Eisens – die kleine Judit war gerade neun Monate – nach ihrer Deportation aus Ungarn am 18. Mai 1944 direkt von der Rampe in die Gaskammern geschickt worden waren, sei Hanning wohl zeitgleich „über beide Ohren verliebt" gewesen in eine junge Polin, die 20 Kilometer entfernt von Auschwitz lebte.

Für seine schwangere Freundin und spätere Frau erreichte er, dass diese vor der Roten Armee fliehen konnte und die deutsche Staatsbürgerschaft erhielt: „Sie haben Ihre Familie in Auschwitz gefunden, meine Mandanten haben ihre Familien in Auschwitz verloren", betonte Walther.

Einmalige Anklage in der Geschichte der deutschen Justiz

Cornelius Nestler aus Köln kritisierte in seinem Plädoyer das Versagen der deutschen Behörden, weil diese NS-Prozesse viel zu spät kämen. Andreas Brendel von der Dortmunder Staatsanwaltschaft zollte Nestler aber Lob, weil er die tödlichen Lebensumstände – vor allem das systematische Verhungern der Häftlinge – im KZ Auschwitz in seiner Anklage mit einbezogen habe. Eine bis dato einmalige Anklage in der Geschichte der deutschen Justiz.

„Hanning wollte Karriere machen, wollte gerade zu denen gehören, die in gehobener verantwortlicher Rolle an der Tat beteiligt sind; er wollte ja nicht nur zu den Wachmännern gehören, sondern er bewirbt sich für den Unterscharführerlehrgang, weil er mehr sein will als ein einfacher Wachmann. Und er versteht sich auch so, als einer der herausgehobenen SS-Männer", beschreibt Nestler in seinem Schlusswort den ehemaligen SS-Wachmann.

„Der Angeklagte wird wegen Beihilfe zum Mord verurteilt werden. Aber es wäre sogar eine Verurteilung wegen Mittäterschaft möglich gewesen. Die Strafkammer wird das bei ihrer Urteilsfindung berücksichtigen", schloss Nestler sein Plädoyer ab.

Der Prozess gegen den 94-Jährigen wird am Donnerstag, 9. Juni, um 10 Uhr in den Räumen der IHK in Detmold fortgesetzt.