Detmold. "Herr Hanning - haben Sie nicht verstanden, was ich gesagt habe? Ich bin auch ein menschliches Wesen - haben Sie keine Angst, mich anzusehen." Eine Dreiviertelstunde dauerte die Aussage der Holocaust-Überlebenden Hedy Bohm vor dem Detmolder Landgericht. Nicht ein einziges Mal schaute der Angeklagte Reinhold Hanning zu der Zeugin auf. Und auch nach der direkten Ansprache blickte der 94-Jährige nur einen Augenblick in ihre Richtung.
Gerade einmal vier Meter trennen das Opfer von dem Mann, der als SS-Angehöriger in Auschwitz Beihilfe zum Massenmord im Vernichtungslager geleistet haben soll. Hedy Bohm, die aus Toronto (Kanada) angereist ist, schildert mit leiser Stimme, wie sie als 16-Jährige direkt nach der Ankunft auf der Rampe in Auschwitz von ihren Eltern getrennt wird, die sie nie wieder sehen wird, wie sie und ihre Leidensgenossinnen geduscht, kahl geschoren und in ein Kleid und Holzschuhe gesteckt werden - "ohne Schlüpfer oder Bh, ohne Strümpfe, nichts" -, so dass sie sich selbst kaum erkennt, wie sie auf dem Lehmboden einer Baracke in Lager C auf drei Holzklötzen schläft, um nach Regenfällen nicht in der Pfütze liegen zu müssen, wie sie die "Suppe" herunterwürgt, um zu überleben: "Diese abscheuliche braune Brühe, in denen braune Ästchen schwammen, Sand und Kieselsteinchen."
Die 87-Jährige bezeichnet die Möglichkeit, vor einem deutschen Gericht auszusagen als "größtes Geschenk". Dennoch fällt es ihr sichtlich schwer, ihr Rechtsbeistand Thomas Walther sitzt links neben ihr, tätschelt ihr die Schulter, stützt sie. Währenddessen verharrt Reinhold Hanning in seinem Rollstuhl, den Blick gesenkt - wie fast immer während des inzwischen acht Tage andauernden Prozesses.
Hedy Bohm überlebt das Vernichtungslager drei Monate: "Ich habe alles in meiner Kraft stehende getan, gesund, sauber und guten Mutes zu bleiben." Ende August 1944 wird sie selektiert, mit ihrer Tante und zwei Cousinen. Nackt müssen sie mit Hunderten anderen eine Nacht in einem Block verbringen - ohne Erklärung. "Ich gehe davon aus, dass die Frauen zunächst zur Sklavenarbeit ausgesucht wurden, dann vergast werden sollten, sonst wären sie nicht nackt gewesen", mutmaßt Nebenkläger-Vertreter Cornelius Nestler. Am Ende geht es in Viehwaggons nach Fallersleben, wo die Frauen in einer Fabrik arbeiten, bis sie im April 1945 befreit werden. Hedy Bohm glaubte zu dem Zeitpunkt immer noch, dass ihre "starke" Mutter überlebt hatte. "Ich war so unwissend über das, was passiert ist - ich schwebte wie im Traum."