Bielefeld. Ursula von der Leyen steht an der europäischen Spitze. Die Deutsche hat geschafft, was die politischen Spitzenkandidaten der europäischen Ebene nicht geschafft haben – sie konnte eine Mehrheit des Parlaments von sich überzeugen. Ihren Weg ebnete sie sich mit einer Fülle von Versprechen, an denen sie sich jetzt messen lassen muss, sagt der Bielefelder Politik-Professor Detlef Sack.
Plötzlich: Von der Leyen im Gespräch
Die Kandidatur kam sehr überraschend. Quasi über Nacht wurde Ursula von der Leyens Hut in den Ring geworfen. Kritik wurde laut, der Wählerwille werde umgangen, sollte es eine Kommissionschefin geben, die bei der EU-Wahl gar keine Rolle gespielt hatte. Ein Problem, welches auch der Politikwissenschaftler Detlef Sack sieht: „Das Parlament konnte dem Spitzenkandidatenprinzip jedoch selber nicht gerecht werden. Es gab schlichtweg kein Ergebnis", sagt der Bielefelder. „In einer merkwürdigen Allianz aus süd- und osteuropäischen Regierungen ist es dann zur Hinterzimmerpolitik gekommen." Das EU-Parlament habe durch diese Entwicklung sicher Schaden in der öffentlichen Wahrnehmung genommen.
„Es ist aber auch so, dass nun einmal das Parlament den Präsidenten der Kommission wählt. Und Ursula von der Leyen hat geschafft, was die europäischen Spitzenkandidaten vorher so nicht geschafft haben. Sie hat ihre Mehrheit. Sie hat sowohl die Akzeptanz der Regierungen als auch eine parlamentarische Mehrheit." Den Erfolg von der Leyens sieht der Wissenschaftler unter anderem in den Worten ihrer Rede vor dem Parlament: „Sie hat sich klar für eine proeuropäische Allianz ausgesprochen und gleichzeitig Signale der Kompromissbereitschaft ausgesendet – etwa in Richtung der Grünen." In dieser Fraktion habe von der Leyen unter anderem mit ihrem Versprechen einer paritätischen Besetzung der Kommissionsposten gepunktet und mit dem Bekenntnis zum Klimaschutz. „Sicher hat es an der Personalie begründete Kritik gegeben", sagt Detlef Sack. „Insgesamt dürfte die Entscheidung allerdings von einer Mehrheit der Menschen begrüßt werden."
Kein Vorteil für die Bundesrepublik
Dass jetzt eine Deutsche auf dem höchsten EU-Posten sitzt, muss für die Bundesrepublik kein Vorteil sein – das Gegenteil könnte gar gelten, sagt der Wissenschaftler: „Vorteile hat eine Regierung dann, wenn sie einen leichten Zugang zum Kommissionspräsidenten hat. Das hatte Frau Merkel bereits bei Herrn Juncker. Da wird sich nichts steigern." Detlef Sack geht eher davon aus, dass die neue Kommissionspräsidentin eine gewisse Distanz zur Bundesregierung wahren wird. „Um möglichen Vorurteilen entgegenzutreten, sie sei nicht gesamteuropäisch orientiert."
Im Ausland werde die Personalentscheidung sicherlich ganz unterschiedlich aufgenommen, sagt Detlef Sack. „Die Ungarn etwa dürften mit der neuen Kommissionspräsidentin wohl nicht viel anfangen können. Anders sieht es in Polen aus. Dort schätzt man das Nato-Engagement der ehemaligen Verteidigungsministerin, insbesondere bei Fragen osteuropäischer Sicherheit gegenüber Russland. Auf der anderen Seite werden die Polen sehr genau hinschauen, wie dialogbereit von der Leyen sich bei rechtsstaatlichen Fragen gegenüber der regierenden PIS-Partei positioniert."
Auf die neue Kommissionspräsidentin werde sehr viel Arbeit zukommen, da ist Detlef Sack sicher. „Sie muss jetzt den Spagat zwischen ihren eigenen Anliegen und den Interessen der europäischen Staaten hinbekommen." Dass sie dazu grundsätzlich in der Lage sei, habe sie bereits durch ihre Wahl gezeigt: „Sie hat eine Mehrheit in einem Parlament beschafft, welches in den vergangenen Wochen aus nachvollziehbaren Gründen deutlich empört war." Die Demokratie in Europa sieht der Politikwissenschaftler nicht in Gefahr – wohl aber sieht er die EU gefordert: „Europa war wohl noch nie so spannend – es gibt reichlich zu tun für die neue Kommissionspräsidentin."