Frau Sablatnig, der Prozess gegen die meisten Angeklagten ist ohne Strafen zu Ende gegangen. Wie fühlen Sie sich?
SABINE SABLATNIG: Schlecht, so wie jeden Tag. Mit jeder neuen Verhandlung stirbt mein Kind für mich noch einmal. Seit neun Jahren versuche ich zu verarbeiten, auf welche grausame Weise ich Anjelina verloren habe. Sie wurde von 15 anderen Körpern erdrückt. Aber die Zeit heilt keine Schmerzen, im Gegenteil, es wird von Jahr zu Jahr schlimmer. Solange die Ermittlungen nicht zum Abschluss kommen und die Verantwortlichen ihre Strafe bekommen, kann ich mit der Sache nicht abschließen.
Wer ist nach Ihrer Meinung nach für die Loveparade-Tragödie verantwortlich?
SABLATNIG: Rainer Schaller, der Veranstalter der Loveparade, der bis heute eine Fitnesskette führt. Wenn ich an diesen Studios vorbeikomme, darf ich gar nicht hingucken. Wut steigt in mir hoch. Auch Adolf Sauerland, damals Oberbürgermeister von Duisburg, trägt die Verantwortung für die Katastrophe. Enttäuscht bin ich auch über die Haltung der Ministerpräsidentin Hannelore Kraft. Sie hat schon beim Trauer-Gottesdienst vor neun Jahren gesagt, das alles schnell aufgeklärt werden müsse. Passiert ist aber nichts. Es wurde viel zu spät angefangen, die Sache aufzuklären.
Wurde Ihnen jemals von dieser Seite so etwas wie Anteilnahme entgegengebracht?
SABLATNIG: Nein. Der einzige, der sich Mühe gegeben hat, ist Sören Link, der seit 2012 Oberbürgermeister von Duisburg ist. Seine Worte zur Tragödie waren wunderschön. Auch meiner Krankenkasse bin ich für die Unterstützung dankbar. Bis heute darf ich eine Psychotherapie in Anspruch nehmen und eine Klinik für Traumatherapie besuchen. Ich gehe auch regelmäßig zum Neurologen, der mir Antidepressiva und Schlafmittel verschreibt. Das alles hilft mir sehr.
Wie integriert sich die Wut und der Schmerz in Ihren Alltag?
SABLATNIG: Ich fühle mich lustlos. Kindergeschrei und laute, volle Straßen ertrage ich nicht mehr. Nur in meinem Auto fühle ich mich in unbekannten Gegenden wohl. Arbeiten kann ich leider auch nicht mehr.
Wieso?
SABLATNIG: Es dauerte eine Weile, aber irgendwann fühlte ich mich gut genug, um wieder als Busfahrerin zu arbeiten. Alles lief wieder normal, ich hatte alles im Griff. Bis zu diesem einen Tag. Arminia Bielefeld hat gegen Hansa Rostock gespielt. Ich steuerte den Bus durch die Stadt. Ich sah Polizisten mit ihren Schutzhelmen und die vielen Fans. Plötzlich ergriff mich das Gefühl der Ohnmacht und Wut. So, wie bei Anjelinas Todesnachricht. Mein Psychologe nennt dieses Phänomen Flashback. Seit diesem Rückfall bin ich arbeitsunfähig und Frührentnerin.
Was hilft Ihnen in den Momenten der Trauer?
SABLATNIG: Ich habe drei Papageien, die mich täglich zum Lachen bringen. Zwei Tattoos ließ ich mir stechen. Der Name von meiner Tochter befindet sich in geschwungenen Buchstaben auf der Innenseite meines rechten Unterarms und das Gesicht auf der rechten Schulter. Ich hatte gedacht, das hilft mir in meiner Trauer. Für eine kurze Zeit hat das funktioniert, aber inzwischen ist alles wie vorher. Dazu kommen Erinnerungen durch Fotos. Ich stelle mir dann immer vor, wie sich Anjelina entwickelt hätte, wenn der 24. Juli nicht gewesen wäre. Sie hätte ihre Bäckerlehre abgeschlossen, vielleicht auch die Fahrprüfung bestanden. Vermutlich hätte ich jetzt Enkelkinder. Sie hatte sich kurz vor der Loveparade verliebt. Sie ist nach Duisburg gefahren, um ihren neuen Freund bei der Parade zu überraschen.
Wie haben Sie von dem Tod Ihrer Tochter erfahren?
SABLATNIG: Ich habe zu dem Zeitpunkt in Österreich gelebt, Anjelina in Bielefeld. Am Samstagmorgen, den 24. Juli, hat sie mich angerufen und mir erzählt, dass sie zur Loveparade fährt. Als ich im Laufe des Tages die Fotos und Videos der Katastrophe im Fernseher sah, habe ich direkt die Hotline für Loveparade-Teilnehmer angerufen. Aber niemand nahm meinen Anruf entgegen. In einem Video sah ich dann, wie Anjelina abtransportiert wurde. Bei der Todesnachricht erlitt ich einen Schock. Notärzte versorgten mich mit Beruhigungsmittel. An die Fahrt von Österreich nach Bielefeld und die Beisetzung wenige Tage später kann ich mich kaum erinnern. Die Bilder des Videos bekomme ich wahrscheinlich nie wieder aus meinem Kopf.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
SABLATNIG: Ich wünsche mir, dass die Ermittlungen zum Abschluss kommen und die richtigen Schuldigen gefunden werden. Ich denke aber, dass das nicht passieren wird. Ich habe meine Hoffnung verloren. In den nächsten Wochen möchte ich wieder die Klinik für Traumatisierung besuchen. Da kann ich Kraft schöpfen, die mich am Leben hält.
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