Bielefeld. „Sie müssen mir auch nicht alles erzählen", sagte Kathrins Arzt. Die 38-jährige war fassungslos. Mit wem soll sie sonst darüber reden, dass sie sich selbst verletzt, wenn nicht mit ihrem Psychiater? Ab hier begann für die Büroangestellte aus dem Kreis Herford, die in Wirklichkeit anders heißt, eine lange Odyssee durch die Praxis-Wartezimmer der Region.
Gelernt hat sie dabei vor allem eines: „Es ist wichtig, dass ich mir als Patientin den Therapeuten aussuchen kann." Doch eine geplante Gesetzesänderung will nun genau daran rütteln: Künftig soll zwischen Hilfesuchenden und Therapeuten eine Zwischeninstanz geschaffen werden.
Zunächst soll ein Arzt oder Psychologe über den Therapiebedarf entscheiden und dem Patienten dann einen Therapeuten zuweisen. Hintergrund für das Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) ist der seit Jahren herrschende Mangel an Psychotherapie-Plätzen. Wartezeiten bis zu mehreren Monaten sind keine Seltenheit, bei vielen Praxen der Region verrät schon der Anrufbeantworter, dass auf absehbare Zeit keine Plätze frei sind. Ob das Gesetz die Situation wirklich entschärft, ist umstritten.
Ihre Krankheit kehrte zurück
Fest steht: Wochenlange Wartezeiten sind oft zu viel. Kathrin weiß das. 2001 kam sie wegen Depressionen und Panikattacken in stationäre Behandlung, danach in Therapie, die sie vor 15 Jahren beendete. Weil sie dachte, es sei alles überstanden. Ein Irrtum.
Vor einem Jahr kehrte die Krankheit zurück. Erst bekam Kathrin Zwangsgedanken, dann Depressionen und Panikattacken: „Das ist wie Todesangst, dein ganzer Körper surrt und zittert", sagt sie.
Sie bemühte sich um einen Therapieplatz und bekam zum Glück rasch einen bei einem Arzt in Herford. „Ich war froh - ich wusste ja schon, wie schwierig das ist." Doch der Therapeut, so hat es Kathrin empfunden, habe das Interesse verloren, kaum mehr Fragen gestellt, nur Pillen verschrieben. Vielleicht hielt er eine medikamentöse Therapie auch schlicht für die bessere Wahl – doch es war nicht das, was Kathrins Seele brauchte.
"Ich wollte Tipps, keine Pillen"
„Ich wollte Tipps, wie ich mit meiner Krankheit umgehen kann, keine Pillen", sagt sie. Als sie dem Arzt dann nach langem Zögern anvertraute, dass sie sich selbst verletzt hat, reagierte er desinteressiert, und ihr riss der Geduldsfaden. „Dann fing meine Therapieplatzsuche erst so richtig an."
Eine frustrierende Erfahrung. Auch, weil man auf einmal in eine absurde Leid-Konkurrenz mit anderen trete. Die zynische Lehre, die sie aus den Erfahrungen dieser Zeit zieht: „Solang keine Suizidgefahr besteht, siehts schlecht aus mit einem Platz."
Und auch wenn man Erfolg hat: Überwindung kostet ein Erstgespräch immer. „Man entblößt sich ja seelisch", so Kathrin. Vertrauen sei unabdingbar.
Brief an den Gesundheitsminister
Irgendwann auf ihrer Reise setzte sie sich dann einmal wütend an ihren Rechner, um Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) zu schreiben. „Wieso wird so mit Menschen umgegangen, die nicht nur Hilfe brauchen, sondern sogar darum betteln? Muss ich wirklich erst zum echten Notfall werden?", fragte sie den Minister in einem langen, emotionalen Brief. Die Antwort lässt bis heute auf sich warten.
Anders als der Therapieplatz. Kathrin geht heute zu einem Psychologen nach Werther und ist glücklich. „Er gibt Hilfe zur Selbsthilfe", sagt sie. Bekommt sie Angstattacken, zählt sie zur Beruhigung einen Countdown runter, kein Grund zur Panik, alles eine Frage des Umgangs. Hätte Sie, wie es das TSVG vorsieht, einen Therapeuten zugewiesen bekommen, wäre sie heute nicht an diesem Punkt, davon ist sie überzeugt.
An ihrem Hals trägt Kathrin eine Erinnerung an die Zeiten, in denen es ihr schlecht ging: Ein Semikolon-Tattoo. Weltweit tragen es Menschen, um ihre Solidarität mit psychisch Kranken auszudrücken und an Suizidopfer zu erinnern. Die Bedeutung: Setz keinen Punkt in deinem Leben, geb nicht auf, sondern erzähle deine Geschichte weiter. Lebe und gib nicht auf. „Mir hat das sehr geholfen", sagt sie. Viele Menschen, die Erfahrungen mit selbstverletzendem Verhalten gemacht haben, tragen dieses Zeichen.
Auch darüber sprach sie nach langem Zögern doch mit ihrem neuen Therapeuten. Er blieb zunächst ganz ruhig, dann sagte er: „Das müssen Sie nicht tun", und lächelte. „Und jetzt schauen wir mal, wie Sie das Problem in den Griff bekommen."