
Bielefeld. Sie lindern Schmerzen, korrigieren Haltungsschäden und helfen manchen Patienten sogar aus dem Rollstuhl: Physiotherapeuten sind eine wichtige Säule des Gesundheitssystems. Weil aber die Ausbildung teuer und die Arbeit vergleichsweise schlecht bezahlt ist, entscheiden sich immer weniger junge Menschen für den Beruf. Die Folge: Patienten müssen oft wochenlang auf Termine warten.
"Bei uns dauert es zwei bis drei Wochen, bis Patienten einen Termin bekommen, bei Hausbesuchen oft länger. Dabei muss das Rezept für einen Termin innerhalb von 14 Tagen angetreten werden", sagt Heinrich Rügge, Physiotherapeut mit eigener Praxis in Lemgo. Der stellvertretende NRW-Vorsitzende des Deutschen Verbandes für Physiotherapie (ZVK) und seine Mitstreiter haben in diesem Sommer per Wartezeitenbarometer erfasst, wie schlimm die Lage in Deutschland ist: Drei Wochen Wartezeit sind das Minimum in allen Bundesländern, bei Hausbesuchen vier Wochen.
Physiotherapeuten fordern eigene Kammer
70 Prozent der befragten Praxen suchen Mitarbeiter. Rügge geht es nicht anders: "Ich suche seit Monaten händeringend nach zwei neuen Kräften", sagt der 58-Jährige. "Der Beruf hat an Attraktivität verloren. Seit Jahren liegen die Abschlüsse mit den Krankenkassen unterhalb der Inflation."
Das Bündnis "Therapeuten am Limit" sieht die Patientenversorgung akut gefährdet und hat einen Brandbrief ans Bundesgesundheitsministerium geschrieben. "Den Krankenkassen geht es so gut wie lange nicht. Es ist nicht nachvollziehbar, warum bei der Vergütung gemauert wird", sagt Volker Brünger, Mitglied des Bündnisses und Physiotherapeut aus Porta Westfalica.
Brünger, Rügge und einige Kollegen fordern bereits die Gründung einer Therapeutenkammer, äquivalent zur Ärztekammer, um ihre Anliegen besser vertreten zu können. Die Idee hat auch Kritiker. Eine Pflichtmitgliedschaft brächte Beiträge mit sich, die sich nicht jeder leisten kann.
Dabei ist die Vergütung von Heilmittelerbringern zuletzt sogar gestiegen. Darauf beruft sich auch der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenkassen (GKV). Rügge reicht das nicht. Er betont, dass selbstständige Therapeuten 30 Prozent weniger verdienen als angestellte Kollegen im öffentlichen Dienst der Krankenhäuser. Für 20 Minuten Krankengymnastik bekommt er 19,58 Euro. Für Praxen ohne Rezeptionisten komme die Schreibarbeit dazu, sodass sie Termine nur im Halbstundentakt vergeben. Rügge: "Dann verdient ein Physiotherapeut pro Stunde weniger als 40 Euro. Dafür bekommen Sie keinen Handwerker."
Viele Kollegen schrecke das Einstiegsgehalt von durchschnittlich 2.200 Euro ab – und die hohen Ausbildungskosten: bis zu 600 Euro monatlich. Die Abschaffung des Schulgelds für alle Gesundheitsberufe hat die Bundesregierung im Koalitionsvertrag versprochen. Details zur Umsetzung fehlen bislang. Rügge, fordert Aktionismus von der Landesregierung. Gesprächsanfragen der Physiotherapeuten bei Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) habe es gegeben. Rügge: „Aber der Minister konzentriert sich wohl eher auf die Pflege."
NRW-Minister will Schulgeld abschaffen
Auf Anfrage dieser Zeitung antwortet Laumann hingegen, dass er im Bereich der Therapieberufe erheblichen Handlungsbedarf sehe: „Wir müssen dringend Verbesserungen in der Ausbildungs- und Beschäftigungssituation erreichen." Dies gelte neben der Physiotherapie auch für die Ergotherapie und Logopädie.
„Wir werden unser Versprechen, einen erheblichen Schritt in die Schulgeldfreiheit einzuleiten noch im Herbst umsetzen", so der NRW-Minister. „Unser Ziel ist dabei auch, dass die Schüler, die bereits in Ausbildung sind, von diesen Leistungen profitieren." NRW solle das erste Bundesland sein, dass sich erheblich an der Finanzierung der Ausbildung beteiligt.
INFORMATION
Wie viele Menschen in diesem Beruf arbeiten wird statistisch nicht genau erfasst. Die Berufsverbände schätzen die Zahl der Physiotherapeuten in ganz Deutschland auf 300.000.