Das hat es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie gegeben: Ein vom Bundespräsidenten vorgeschlagener Kanzlerkandidat fällt im ersten Wahlgang im Bundestag durch. Friedrich Merz verfehlte am Dienstagmorgen mit lediglich 310 Ja-Stimmen die sogenannte „Kanzlermehrheit“ im Bundestag von 316 Stimmen. Merz fehlten damit 18 Stimmen aus den Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und SPD, die zusammen über 328 Sitze verfügen. Bei einem zweiten Wahlgang am Nachmittag klappte es dann aber. Nach welchen Regeln lief die Kanzlerwahl ab? Die wichtigsten Fragen und Antworten.
Scheitern im ersten Wahlgang: Das steht im Grundgesetz
Das Grundgesetz schreibt Folgendes vor: Im Fall des Scheiterns des ersten Wahlgangs schließt sich eine zweite Wahlphase an. Der Bundestag hat in dieser Phase zwei Wochen Zeit, um den Gescheiterten oder einen anderen Kandidaten beziehungsweise eine andere Kandidatin zum Kanzler zu wählen. Dafür muss es aus der Mitte des Parlamentes einen oder mehrere Wahlvorschläge geben. Damit sie gültig sind, müssen sie von einem Viertel der Mitglieder des Parlaments oder einer Fraktion, die dieses Quorums erfüllt, unterzeichnet werden.
Nach der gescheiterten Wahl herrschte im Parlament aber Unklarheit darüber, ob zur Einleitung des zweiten Wahlgangs Fristen einzuhalten sind. Tatsächlich schreibt die Geschäftsordnung des Bundestags vor, dass der erneute Wahlgang „frühestens am dritten Tag“ nach der Verteilung des Wahlvorschlags per Bundestags-Drucksache erfolgen darf. Das wäre erst Freitag gewesen. Die Bundestagsverwaltung stellte dann aber klar, dass der Bundestag mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit die Frist verkürzen kann, um den zweiten Wahlgang noch am Dienstag zu ermöglichen.
So ging es dann weiter mit der Kanzlerwahl?
Für eine Fristverkürzung brauchten SPD und Union neben den Stimmen der Grünen auch die von Linken oder der AfD. Da alle Fraktionen Zustimmung signalisierten, wurde um 15.15 Uhr die unterbrochene Sitzung wieder aufgenommen. Zuvor hatten die Koalitionsfraktionen von Union und SPD formal Friedrich Merz zur Wahl vorgeschlagen – auf Drucksache 21/111. Anschließend stimmten die Koalitionäre zusammen mit Grünen, Linken und der AfD für die Fristverkürzung und damit für den zweiten Wahlgang noch am Nachmittag.

Diesmal ging alles gut für Merz. Um 16.15 Uhr stand das Ergebnis fest: Für den CDU-Chef votierten in geheimer Abstimmung 325 Abgeordnete – die erforderliche Mehrheit lag auch in diesem Wahlgang bei 316 Stimmen.
Was wäre bei einem weiteren Scheitern passiert?
Das Grundgesetz schreibt für diesen Fall in einer dritten Phase „unverzüglich“ einen neuen Wahlgang vor. Dabei reicht dann die relative Mehrheit: Gewählt ist, wer die meisten abgegebenen Stimmen erhält. Danach ist der Bundespräsident am Zug: Ist die absolute Mehrheit erreicht, muss das Staatsoberhaupt die gewählte Person zum Bundeskanzler ernennen. Wurde der Kandidat allerdings nur mit einer relativen Mehrheit gewählt – die Juristen sprechen dann von einem „Minderheitskanzler“, hat der Bundespräsident ein auf sieben Tage befristetes Wahlrecht: Er kann den Gewählten ernennen oder er löst den Bundestag auf und ruft Neuwahlen aus – in diesem Fall muss innerhalb von 60 Tagen neu gewählt werden.
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Wer hat während der Hängepartie das Land regiert?
Olaf Scholz (SPD) ist zwar am Montag mit dem Großen Zapfenstreich verabschiedet worden. Artikel 69 des Grundgesetzes bestimmt jedoch, dass der Bundeskanzler die Amtsgeschäfte „bis zur Ernennung seines Nachfolgers“ weiterführt. Dazu war Scholz also verpflichtet. Auch die bisherigen Ministerinnen und Minister des Bundeskabinetts blieben bis zur Ernennung von Merz geschäftsführend im Amt.
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Was waren bisher die knappsten Kanzlerwahlen im Bundestag?
Konrad Adenauer hatte jede Menge Glück bei seiner ersten Wahl zum Regierungschef der jungen Bundesrepublik: Nur mit einer einzigen Stimme Mehrheit wurde der 73-jährige CDU-Politiker am 15. September 1949 zum ersten Bundeskanzler gewählt. Seine Koalition aus CDU/CSU, FDP und Deutscher Partei (DP) hatte 209 von 402 Stimmen – doch sieben Abgeordnete waren entweder nicht anwesend oder verweigerten Adenauer die Stimme. Bundespräsident Theodor Heuss hatte Adenauer vorgeschlagen. Die Abgeordneten sollten bei der Abstimmung „Ja“ oder „Nein“ auf ihre Stimmzettel schreiben. Drei waren anscheinend überfordert, sie notierten den Namen „Adenauer“. Bundestagspräsident Erich Köhler trat vor das Plenum: „Ich bitte das Haus um eine Meinungsäußerung, ob diese Stimmzettel als gültig anzusehen sind.“ Es gab Ja-Rufe und keinen Widerspruch – Adenauer war gewählt.
„Et hätt noch immer jot jejange!“, sagte der Kölner daraufhin. Wie knapp es wirklich war, wurde erst Jahre später deutlich. Der Abgeordnete der Bayernpartei Johann Wartner machte öffentlich, entgegen der Weisung seines Vorsitzenden „wohl als einziger Oppositionspolitiker“ für Adenauer gestimmt zu haben. Das bedeutet, dass es noch einen weiteren Abweichler in der Regierungskoalition gegeben haben muss. Wartners Begründung klingt angesichts von Merz Scheitern höchst aktuell: Die rasche Wahl des Kanzlers sollte als Zeichen für die neu gewonnene Demokratie gedeutet werden und deren Akzeptanz in der Bevölkerung fördern, sagte er.
Nur knapp wurden in den 1970er-Jahren auch die Bundeskanzler der SPD ins Amt gewählt. Willy Brandt benötigte am 21. Oktober 1969 für eine Kanzlermehrheit 249 Stimmen, 251 Abgeordnete wählten ihn ins Amt. Die SPD/FDP-Koalition verzeichnete drei Abweichler, höchstwahrscheinlich aus der FDP. Helmut Schmidt bekam 1976 sogar nur 250 Stimmen, also eine einzige mehr als notwendig. Auch bei ihm hatten sich mindestens drei Mitglieder seiner SPD/FDP-Koalition mit 253 Abgeordneten enthalten.
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Welche dramatischen Wahlen gab es auf Länderebene?
Die Suche nach dem „Heidemörder“ ist bis heute ohne Ergebnis geblieben. Eine Stimme fehlte der SPD-Politikerin Heide Simonis 2005 in Kiel bei der Wiederwahl zur schleswig-holsteinischen Ministerpräsidentin. In vier Wahlgängen scheiterte Simonis und gab schließlich auf. Drei Wahlgänge gehörten in Thüringen zwischenzeitlich zum Standard: 2014 benötigte die CDU-Landesvorsitzende Christine Lieberknecht drei Wahlgänge, um Ministerpräsidentin zu werden. Ihr Nachfolger Bodo Ramelow (Linke) scheiterte 2020 sogar im dritten Wahlgang. Sein Gegenkandidat Thomas Kemmerich (FDP) wurde mithilfe von AfD und CDU gewählt und sofort zum Rückzug gedrängt. Einen Monat später schaffte Ramelow es im dritten Wahlgang dann doch wieder in die Staatskanzlei. Ramelows Nachfolger Mario Voigt (CDU) schaffte es 2024 dann wieder im ersten Wahlgang, obwohl seiner CDU/SPD/BSW-Koalition eine Stimme zur Mehrheit fehlt. In Sachsen brauchte 2024 Michael Kretschmer (CDU) zwei Wahlgänge zur Führung einer CDU/SPD-Minderheitsregierung. Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner (CDU) brauchte 2023 drei Wahlgänge, bevor er den Chefsessel im Roten Rathaus besetzen konnte.