Bundespräsident aufgebracht

Steinmeier sorgt für Eklat: Wutanfall nach kritischer Mauerfall-Rede

In einer kurzen, kritischen Rede im Schloss Bellevue konfrontierte der Schriftsteller Marko Martin Bundespräsident Steinmeier mit dessen eigenen Aussagen.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier fühlt sich diffamiert. | © Sebastian Christoph Gollnow/dpa

Jan Sternberg
09.11.2024 | 09.11.2024, 09:45

Es war alles andere als die übliche Gedenkrede zum Jahrestag des Mauerfalls, die der Schriftsteller Marko Martin im Schloss Bellevue hielt: In nur 15 Minuten rechnete er mit der deutschen Selbstbezogenheit, der Geringschätzung Mittel- und Osteuropas und der Naivität im Umgang mit Russlands Gewaltherrscher Wladimir Putin ab.

Dabei sparte Martin auch den Hausherrn und früheren SPD-Außenminister Frank-Walter Steinmeier nicht aus. Der schwieg wie versteinert, rührte keine Hand zum Applaus – und beklagte sich hinterher sichtlich erregt beim Redner.

„Der Bundespräsident stürzte auf mich zu, nahm meine Hand in den Schraubgriff und beklagte sich“, berichtet Martin dieser Redaktion. „Es sei ja so leicht, die Politik zu diffamieren. Die Intellektuellen wüssten ja gar nicht, wie hart die Politik hinter den Kulissen arbeite. Das habe ich allerdings auch gar nicht in Abrede gestellt, sondern ihn nur mit seinen Aussagen konfrontiert – und die SPD mit ihrer fortgesetzten Verweigerung von Lernwilligkeit.“

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Augenzeugen bestätigen der Redaktion, dass Steinmeier sichtlich aufgebracht war und lange und erregt auf Martin eingeredet habe. Die Sprecherin des Bundespräsidenten erklärte dazu der Nachrichtenagentur dpa, Steinmeier habe mit Martin bei dem Empfang „kontrovers, aber sachlich über seine Rede diskutiert“.

Was hat den Bundespräsidenten so erregt? Der 54-jährige Redner Martin (im Mai 1989 aus der DDR in die Bundesrepublik übergesiedelt) erinnerte daran, wie wichtig die polnische Freiheitsbewegung Solidarnośc auch für die Wende in Ostdeutschland war: „Ist tatsächlich im kollektiven Gedächtnis anerkannt, dass der erste Stein aus der Berliner Mauer einst auf der Lenin-Werft in Danzig geschlagen wurde?“

Autor Marko Martin: "Der Bundespräsident nahm meine Hand in den Schraubgriff." - © IMAGO/Metodi Popow
Autor Marko Martin: "Der Bundespräsident nahm meine Hand in den Schraubgriff." | © IMAGO/Metodi Popow

Eine Linie von Bahr über Schröder zu Miersch – und Steinmeier

Er argumentiert, dass der SPD das gute Verhältnis zu Moskau stets wichtiger war als Dank und Solidarität gegenüber den Mittelosteuropäern. Er spannt einen Bogen vom SPD-Ostpolitiker Egon Bahr, der die polnische Solidarnośc 1982 als „Gefahr für den Weltfrieden“ bezeichnet habe, über Putin-Freund Gerhard Schröder bis zu Steinmeier und dem neuen SPD-Generalsekretär Matthias Miersch.

„Schon wird Gerhard Schröder, nach wie vor reuelos großsprecherischer Duzfreund des Massenmörders im Kreml, vom neuen Generalsekretär der Kanzlerpartei garantiert, dass selbst für ihn weiterhin Platz sei in der deutschen Sozialdemokratie. Dies übrigens zum gleichen Entsetzen der Osteuropäer und gestandener Sozialdemokraten, mit dem sie 2016 aus dem Mund des damaligen Außenministers hören mussten, die Nato-Manöver an der Ostflanke, um die dortigen Demokratien zu schützen, seien ,Säbelrasseln und Kriegsgeheul’.“

Es ist nicht die einzige Aussage, die er Steinmeier, „bei allem Respekt“, vorhält – auch, dass er als Bundespräsident noch Anfang 2022 Nordstream verteidigte und in diesem Frühjahr Ukraine-Unterstützer als „Kaliber-Experten“ bezeichnet hat. Das seien mehr als „verbale Ausrutscher“, sondern „fatale Denkmuster“.

„Endlich sagt es mal jemand“

Die Rede ist auch jenseits des Eklats zum Jahrestag des Mauerfalls nachhörenswert – denn Martin macht einige wichtige Punkte, übt in dieser Klarheit selten gehörte Kritik an der Selbstbezogenheit sowohl ost- als auch westdeutscher Debatten.

„Dass 1989 in Deutschland als ein rein deutsches Ereignis wahrgenommen wird, zeigt, wie eng und engstirnig die Debatte hierzulande verläuft“, sagt Martin der Redaktion. „Die Geringschätzung Mittel- und Osteuropas ist für mich auch das mentale Erbe des Hitler-Stalin-Paktes: Die Länder zwischen Berlin und Moskau spielen für allzu viele in Deutschland immer noch keine eigenständige Rolle.“

Die polnischen Zuhörer in Bellevue hätten sich bei ihm mit den Worten bedankt: „Endlich sagt es mal jemand.“ Dabei habe er „gar nichts Neues oder Originelles gesagt, sondern nur Fakten wiedergegeben“.

Ein Satz an Steinmeiers Wutausbruch aber hat Martin nachhaltig verstört: „Und dann sagte er noch, ich sei ja als Gast ins Schloss Bellevue eingeladen gewesen. Das fand ich vor dem Hintergrund dessen, dass es um den Jahrestag der Friedlichen Revolution ging und all die Sprechblasen von ‚Mut und Widerständigkeit‘ hervorgeholt wurden, schon bemerkenswert.“

Als „mutig“ will sich Martin aber keineswegs für seine Rede bezeichnen. Dieser Redaktion sagt er: „Mutig waren die Menschen, die in Leipzig und anderswo auf die Straße gehen. Mutig sind heute die jungen Ukrainer und Ukrainerinnen, die gegen Putins Truppen kämpfen.“