Minister Pistorius und sein Bruder über Fußball: „Man lernt, Konflikte auszuhalten“

Wenn am Freitag die Fußball-Europameisterschaft beginnt, dann werden neben Millionen anderer zwei Fußballfans ebenfalls genau hinschauen: Verteidigungsminister Boris Pistorius, Jahrgang 1960, und sein Bruder Harald, Jahrgang 1956. Boris Pistorius hat seit 30 Jahren eine Dauerkarte beim heimischen VfL Osnabrück – dem gerade wieder abgestiegenen Drittliga-Klub in jener Stadt, deren Oberbürgermeister er einst war. Harald Pistorius wurde 1979 Sportredakteur der &bdquo;Neuen Osnabrücker Zeitung“, stieg 2003 zum Leiter des Sportressorts auf und scheidet erst zum Jahresende nach 45 Berufsjahren als Redakteur aus. Harald Pistorius’ bevorzugter Berichtsgegenstand: der VfL Osnabrück. Die Leidenschaft für den Fußball haben die Brüder von ihrem Vater. Gleiches gilt für den dritten Bruder Fred, dessen Lebensmittelpunkt ebenfalls Osnabrück geblieben ist. Die EM ist der Anlass, mit dem Verteidigungsminister, der es sonst mit durchweg ernsten Themen zu tun hat, einmal nur über die weniger ernste Nebensache Fußball zu reden. Für das Gespräch ist Harald Pistorius ins Berliner Verteidigungsministerium gekommen, hinter dem es einen herrlich gepflegten Rasen gibt, auf dem man super kicken könnte. Die beiden spielen sich auf Bitten des Fotografen einen Ball zu. Die Begegnung wirkt von Anfang an respektvoll und vertraut. Am Ende wird Harald Pistorius sagen, dass er stolz auf seinen Bruder sei. Lesen Sie auch: Fußball-EM 2024: Spielplan und Gruppen im Überblick Herr Minister, Ihr Vater hat als Trainer die Jugendabteilung des örtlichen Fußballvereins Schinkel 04 aufgebaut. Der Verein befand sich in einem Osnabrücker Arbeiterviertel und ist nach diesem benannt. Boris Pistorius: Ja, die Jugendabteilung gab es bis dahin gar nicht. Wir drei Söhne haben dort in unterschiedlichen Altersstufen mit dem Fußball angefangen. Unsere Mutter hat die Trikots gewaschen, und zwar die der ganzen Mannschaft. Jede Mutter war mal dran. Das ging reihum. Harald Pistorius: Im Wohnzimmer hing eine Magnettabelle des Zigarettenherstellers Lux. Die hat mein Vater überklebt, weil er keine Werbung im Wohnzimmer wollte, wohl aber die Bundesliga-Tabelle mit den großen Vereinsemblemen. Boris Pistorius: Die Tabelle hat er jede Woche aktualisiert. Brüder sind oft Konkurrenten. Waren Sie das auch? Boris Pistorius: Im Fußball waren wir zwei keine Konkurrenten, weil wir vier Jahre auseinanderliegen. Als ich in der E-Jugend anfing, da warst du ja schon in der C-Jugend. Wir haben deshalb nie gegeneinander gespielt. Das war mit unserem jüngeren Bruder Fred anders. Mit dem habe ich oft in derselben Klasse gespielt. Er war der Beste von uns. Grundsätzlich gab es eher Reibungen mit anderen als zwischen uns. Harald Pistorius: Wehe, es gab Drohungen gegen meine Brüder. Da bin ich eingeschritten. Dann gab es Schläge? Boris Pistorius: Nein. Die Abschreckung hat funktioniert. (lacht) Was lernt man beim Fußball für das Leben? Boris Pistorius: Man lernt beim Fußball wie bei jeder Mannschaftssportart, nach Regeln zu spielen. Dazu gehören Fairness und Teamentwicklung, also im Team seine Rolle wahrzunehmen. Die eigene Stärke für die Mannschaft einzusetzen und auch als Team die Stärken der anderen zu nutzen, um eigene Schwächen auszugleichen. Es geht darum, zusammenzuwachsen und auch mit Niederlagen gemeinsam umzugehen. Denn die alte Weisheit stimmt ja: Der wahre Charakter zeigt sich nicht daran, wie man sich beim Sieg verhält, sondern bei einer Niederlage. Über viele Jahre Mannschaftsspieler und vielleicht noch Trainer gewesen zu sein – das prägt. Harald Pistorius: Man lernt auch, sich durchzusetzen und Konflikte auszuhalten. Wir haben ja nicht nur im Verein gespielt. Da, wo wir herkommen, gab es außerdem drei Straßenmannschaften – und Spiele ohne Schiedsrichter. Wir haben das untereinander geregelt. Dabei haben wir im Schinkel auch frühzeitig mit Ausländern zu tun gehabt, überwiegend mit Spaniern und Türken. Wir wussten nicht, was Integration ist, sondern haben sie einfach praktiziert. Boris Pistorius: Von Integration hat niemand gesprochen. Sie fand einfach statt. Wir haben gemeinsam gespielt und Geburtstage gefeiert. Es sind Freundschaften entstanden. Das war völlig normal. Denn wir wohnten im Schinkel auf engem Raum zusammen. Sie beide eint die Nähe zum VfL Osnabrück, als Fan und als Berichterstatter. Der Verein ist jetzt zum achten Mal aus der 2. Bundesliga abgestiegen. Woher rührt die Treue? Boris Pistorius: Der VfL ist unser Herzensverein. Das bleibt auch bei Abstiegen so, und so geht es vielen anderen mit ihren Vereinen, die gerne mal als Fahrstuhlmannschaften belächelt werden. Ich habe allein in meiner Zeit als Oberbürgermeister zwei Aufstiege erlebt. Jetzt sind wir wieder abgestiegen. Aber, keine Sorge, wir kommen zurück. Herr Pistorius, Sie haben über Ihren Journalistenberuf gesagt: &bdquo;Die schönsten Momente sind, wenn Menschen wirklich etwas von sich und ihrem Sport erzählen wollen.“ Harald Pistorius: Ja, allerdings sitzen Fußballer manchmal auf einem hohen Ross – weil sie so begehrt sind. Wenn Sie dann mit einem Ruderer, Handballer oder Leichtathleten sprechen, dann merken Sie, dass die sich ganz anders einlassen. Die wollen ihren Sport erklären. Im Fußball wird die Kommunikation mit Reportern durch Vereine und Verbände derart reglementiert und kontrolliert, dass fast alles an Authentizität auf der Strecke bleibt – und das mittlerweile bis in die 3. Liga. Sie stammen aus bescheidenen Verhältnissen. Wünscht man sich da im Fußball heute manchmal mehr Uwe-Seeler-Geist? Boris Pistorius: Nein, das würde bedeuten zu romantisieren. Und doch darf man sagen, dass damals vieles noch ehrlicher und verbundener war. Wenn ein Spieler die Hand auf das Wappen des Trikots legte, dann war das so gemeint. Heute spielt der Kommerz natürlich eine viel größere Rolle. Beim Champions-League-Finale in Wembley gab es jetzt drei Wochen vorher kein Ticket unter 9.000 Euro mehr. Wenn sich das durchsetzt, wird der Sport in Stadien irgendwann nur noch etwas für Privilegierte sein. Und doch hat selbst diese Entwicklung einen positiven Effekt: Der Amateurfußball gewinnt wieder an Bedeutung, weil er vielen Leuten näher ist. Harald Pistorius: Auch früher ist im Fußball schon gelogen und betrogen worden. Es gab schwarze Kassen und Spielmanipulationen. Der Fußball war in den 1950er Jahren nicht sauberer. Anders war die Nähe der Spieler zu den Zuschauern. Die haben manchmal noch im selben Betrieb gearbeitet oder in demselben Viertel gewohnt. Das gibt es heute nicht mehr. Das ist der Preis, den man für den modernen Fußball zahlt. Kommerzialisierung und Professionalisierung sind die Grundlage dafür, dass Spitzenfußball heutzutage besser ist als je zuvor – Höchstleistung unter fortlaufender Perfektionierung. Nun nähert sich die Europameisterschaft mit großen Schritten. Und fußballerisch herrscht in Deutschland nach mancherlei Frust wieder verhaltener Optimismus. Zu Recht? Harald Pistorius: Der Bundestrainer hat überraschende Entscheidungen getroffen. Sie passen zum neuen Stil des DFB. Die Mischung an Spielern ist sehr gut. Ich würde mir nur wünschen, dass man die EM nicht allein am Ergebnis misst. Wichtiger wäre, dass die Mannschaft diese Lust am Spiel wieder auf den Platz bringt. Das mag ein blöder Satz sein, zumal von einem Sportjournalisten: Aber wenn die Mannschaft im Viertelfinale furios scheitert, dann ist mir das viel lieber, als wenn sie sich einmauert und damit ins Finale einzieht. Dabei würde ich gern noch einen Satz zu der vom &bdquo;WDR“ in Auftrag gegebenen Umfrage sagen. Sie meinen, wie die Befragten den Migrationshintergrund der Nationalspieler bewerten? Harald Pistorius: Ja, denn dieser Migrationshintergrund ist auf allen Ebenen des Fußballs absolut selbstverständlich. Die Frage danach macht Leute, die das anders sehen, nur salonfähig. Boris Pistorius: Sie gibt ihnen eine Aufmerksamkeit, die sie beim besten Willen nicht verdient haben. Dass rund 20 Prozent einen Migrationshintergrund ablehnen, ist mehr als bitter, aber nicht überraschend. Wir wissen seit Langem, dass ungefähr so viele Menschen in der Gesellschaft fremdenfeindlich oder gar rechtsextrem denken. Die &bdquo;WDR“-Umfrage führt dazu, dass wir nicht über die große Mehrheit reden, die anderen 80 Prozent. Entscheidend ist, dass sie ein positives Menschenbild haben und sich nicht vom Hass anstecken lassen. Was die Aussichten der deutschen Mannschaft angeht, bin ich völlig bei meinem Bruder. Besser wir erleben ein grandioses Viertelfinale, in dem sie beim Elfmeterschießen ausscheidet, als uninspirierten Sicherheitskick bis ins Endspiel. Die Sicherheitsvorkehrungen bei der EM sind massiv. Wäre es nicht schon ein Erfolg, wenn es friedlich bleibt? Boris Pistorius: Ich kenne das von meinen zehn Jahren als Innenminister in Niedersachsen: Es gibt vor Großveranstaltungen immer auch die Frage, ob alles glatt läuft. Die Sicherheitsbehörden müssen viel im Blick haben, zum Beispiel auch das Abwehren hybrider Angriffe. Sie müssen die digitale Infrastruktur schützen und das Lahmlegen von Stadien und die Gefährdung von Sicherheitseinrichtungen verhindern. Ich weiß, dass sich alle Sicherheitsbehörden sehr sorgsam auf die EM vorbereiten. Noch eine Frage zum Schluss: Wie sehr verbindet der Fußball Sie beide? Boris Pistorius: Es geht nicht so weit, dass wir den Fußball bräuchten, um uns verbunden zu fühlen. Aber wir schauen natürlich auch gern ein Spiel zusammen an. Wenn ich im Stadion in Osnabrück bin, sitzen wir fast nebeneinander. Oder wir tauschen uns beim Telefonieren über die neuesten Entwicklungen beim VfL aus. Das gilt auch für unseren Bruder Fred. Harald Pistorius: Außerdem tippen wir als Familie seit Mitte der 1960er-Jahre wöchentlich die Spiele der 1. und der 2. Bundesliga. Boris Pistorius: Und wenn der VfL nicht in der 2 Liga spielt, tippen wir auch die Osnabrück-Spiele in der 3. Liga. Harald Pistorius: Das ist ein Erbe unseres Vaters. Meine Mutter musste immer mittippen. Die stand auf Fritz Walter und den 1. FC Kaiserslautern. Bei ihr ist Kaiserslautern immer verlustpunktfrei Deutscher Meister geworden.

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