Chef der NRW-SPD: "Wüst fehlt es an Tatkraft für unser Land"

Herr Post, wie sehen Sie die Stimmung in Deutschland kurz vor den Landtagswahlen in Bayern und Hessen an diesem Sonntag? Achim Post: Die Stimmung im Land ist wohl schlechter als die Lage. Ökonomisch haben wir in Deutschland alles selbst in der Hand. Auch für die SPD ist noch nicht alles gelaufen. Bayern war bisher nie der Mittelpunkt der Sozialdemokratie. Klar ist zugleich, dass es die SPD-Wahlkämpfer vor Ort auch schon mal leichter hatten. Was bedeutet das alles für die Findung neuer Mehrheiten? Ich hoffe in jedem Fall auf demokratische Mehrheiten. Herr Söder hat leider einen windelweichen Kurs gegenüber den Freien Wählern eingeschlagen. Was das für das Wahlergebnis bedeutet, werden wir sehen. Wie sieht es mit der Stabilität auf Bundesebene aus? Nach den Umfragen werden alle Ampel-Parteien bei den beiden Landtagswahlen Stimmen verlieren. Es gilt völlig unabhängig von diesen Wahlen: Die Handlungsnotwendigkeit in der Wirtschafts- und Sozialpolitik ist groß. Für die SPD heißt das: Wir wollen das Rentenpaket 2 vorlegen und insgesamt deutlich mehr investieren. 112 Milliarden Euro stehen dafür allein in 2024 insgesamt bereit. Die Finanzlage der Kommunen ist vielerorts dramatisch. Über 350 Bürgermeisterinnen und Bürgermeister aus NRW schreiben nicht ohne Grund einen Brandbrief an NRW-Ministerpräsident Wüst. Diese Herausforderung anzunehmen, ist eine kollektive Aufgabe. Bund und Länder dürfen sich dabei nicht die Verantwortung zuschieben. Hier setze ich auf eine Übereinkunft auf der Ministerpräsidentenkonferenz Anfang November. Welche Rolle spielt bei alldem die Schuldenbremse? Man kann die Schuldenbremse nicht einfach so außer Kraft setzen. Das geht gemäß unserer Verfassung nur in außergewöhnlichen Notsituationen. Aber wir brauchen trotzdem Luft zum Atmen für Investitionen. Auch deshalb bin ich dafür, die Schuldenregeln zu reformieren. Wir dürfen sie nicht wie die Zehn Gebote behandeln. Ein Beispiel, wie viel Geld für Investitionen nötig ist: Wir haben für die Bahn für die nächsten Jahre rund 80 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt. Das sind ausschließlich Mittel für Modernisierung, Pünktlichkeit und Digitalisierung. Was bedeutet der Handlungsdruck für die Ampel-Koalition? Der Einigungsdruck für die Politik insgesamt ist deutlich größer geworden. Die Lage der Kommunen, soziale Sicherheit, gute Bildung – das sind einige der zentralen Themen. So wie es Bundeskanzler Scholz vorgeschlagen hat: Wir brauchen einen Deutschlandpakt, bei dem Bund und Länder zusammenarbeiten – zum Wohle unseres Landes. Herr Merz weiß leider noch nicht ganz genau, was er will. Er sollte sich jetzt schnell entscheiden, ob er bei einem solchen Pakt ernsthaft mitarbeiten will oder sich eher mit Parolen und Sprüchen profilieren will. Es gibt in der Koalition viele Reibereien. Läuft die Arbeit dennoch gut? Wenn alles gut wäre, läge die Koalition jetzt bei 50 bis 55 Prozent Zustimmung. Die Ampel hat in der Sache zwar viel hinbekommen. Es gibt aber auch viele Streitereien. Beispiel: Das Heizungsgesetz war zunächst handwerklich nicht gut gemacht. Der Streit über die Kindergrundsicherung war unnötig. Hier muss sich die Ampel an die eigene Nase packen und besser werden. Spielt Ideologie eine Rolle bei der Entscheidungsfindung? Mit drei Partnern ist es schwieriger als mit zweien. Die SPD hat oft versucht, zu vermitteln. Das ist auch weiter notwendig, damit am Ende vernünftige Lösungen für das ganze Land stehen. Zugleich wird zu Recht erwartet, dass klar wird, was die SPD-Position in der Regierungsarbeit ist. Wofür steht die SPD? Starke Investitionen mit starker sozialer Sicherheit zu verbinden; das ist unser Schwerpunkt. Jetzt sind die Absicherung des Rentenniveaus und ein Tariftreuegesetz wichtige Vorhaben für die nächste Zeit. Wie stehen Sie zur aktuellen Debatte um den Strompreis? Die NRW-SPD ist für eine Strompreisbrücke einschließlich Industriestrompreis. Gerade unsere Betriebe und Beschäftigten in NRW brauchen diese Planungs- und Investitionssicherheit. Der Kanzler will zu Recht keine Dauersubventionen. Das will ich auch nicht. Wir brauchen eine befristete Lösung für die nächsten Jahre. Am Schluss wird es ein ordentliches Ergebnis geben. Wir reden hierüber derzeit mit den Koalitionspartnern. Wenn es nach mir geht, muss die Lösung bis Ende Oktober stehen. Wie könnte die aussehen? Es muss ein Paket geschnürt werden, das unterschiedliche Elemente enthalten kann. Eine Senkung der Stromsteuer, ein verlängerter Spitzenausgleich für besonders energieintensive Betriebe und der Industriestrompreis sind einige der Komponenten, die aktuell diskutiert werden. Die SPD-Fraktion hat für die Industrie einen Preis von fünf Cent für fünf Jahre vorgeschlagen. Die FDP will insbesondere eine Senkung der Stromsteuer. Hier kann man sich schon aufeinander zubewegen. Natürlich muss das Ganze dann am Ende auch finanziert werden, etwa aus dem Klima- und Transformationsfonds. Der Klimafonds bezahlt dann also Geld, um Strom billiger zu machen, der dann aber in größerem Umfang verbraucht wird? Es geht darum, vor allem unserer Industrie für einen Übergangszeitraum Planungssicherheit zu geben, um die Transformation und Elektrifizierung der Prozesse zu schaffen. Wir wollen im Übrigen Transformationsanforderungen, Standorttreue und Tariftreue zu Voraussetzungen machen. Natürlich sollen so Anreize für Klimaschutz und Transformation erhalten bleiben. Gibt es noch eine demokratische Kultur jenseits der AfD? Absolut. Wir haben einen solchen Konsens unter den demokratischen Parteien. Die AfD stellt hingegen die Grundwerte unseres Landes und die Demokratie infrage. Muss das die SPD in ihrem Programm stärker betonen? Es ist die Aufgabe aller Demokraten, etwas dafür zu tun, dass demokratische Parteien in der Mehrheit sind. Gerade vor der anstehenden Europawahl im nächsten Jahr. Die europäische Idee steht für Freiheit, Gerechtigkeit und den Rechtsstaat. Nur ein souveräneres Europa kann sich weltweit behaupten. Die EU muss einiger werden, um ihre Interessen durchzusetzen. Die Bürgerinnen und Bürger wissen, dass es keine große Entscheidung mehr ohne die Einbindung der EU geben kann. Doch viele Bürger sind europamüde, weil sie den Streit satt sind, ähnlich wie im Bund. Europa ist objektiv kompliziert. Es gibt 27 Staaten und die örtlichen Zuständigkeiten von Abgeordneten sind riesig. Aber: Europa hat gezeigt, dass es in der Sache handlungsfähig ist. Die Hilfen, die etwa in den Süden Europas gegeben wurden, haben Wirkung gezeigt. Spanien und Portugal sind längst nicht mehr die europäischen Sorgenkinder. Davon profitieren wir alle. Die Wahrnehmung ist aber oft: Nur das Negative kommt aus Europa. Das hat ja auch zum Austritt Großbritanniens beigetragen. Warum verkauft Kanzler Scholz sein Nein zur deutschen Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine nicht offensiver, nach dem Motto: Gegen Putin muss alles unternommen werden, aber Deutschland wird keine Kriegspartei? Ich finde, dass Olaf Scholz als Kanzler in der Phase des Ukraine-Krieges ein Glücksfall für die deutsche Geschichte ist. Und mit solchen Superlativen halte ich mich für gewöhnlich zurück. Er hat alle diplomatischen Hebel in Gang gesetzt, um Putin von einer weiteren, auch nuklearen Eskalation abzuhalten. Er hat zugleich umfassende Hilfe für die Ukraine organisiert – finanziell, humanitär, auch militärisch. Aber: Er wägt genau ab, und das ist richtig und angemessen. In den nächsten vier bis fünf Wochen kommt der Winter und die ukrainische Offensive wird voraussichtlich pausieren. Die Russen werden verstärkt Luftangriffe starten. Die Ukraine braucht daher jetzt vor allem Luftabwehr und weiter viel Munition. Hätte man im Frühsommer Taurus geliefert, hätte das die ukrainische Offensive nicht deutlich gestärkt? Bei Waffensystemen dieser Tragweite ist es unerlässlich, genau zu prüfen. Und es ist ja auch so, dass die anderen Staaten bei vergleichbaren Waffensystemen sehr zurückhaltend sind. Die Situation in den USA ist seit einiger Zeit sehr bedenklich. Präsident Biden wird nicht mehr unbegrenzt in der Lage sein, die Ukraine zu unterstützen. Wie kann Europa da eine eigenständige Position behalten? Gerade deshalb ist es so wichtig, nicht in eine ähnliche Situation zu kommen. Die USA sind leider kein Musterbeispiel mehr für Demokratie und respektvolles Miteinander. Mit Radikalität gewinnt man dort Stimmen. Dabei spielt der Wandel in der Medienlandschaft eine nicht zu unterschätzende Rolle. Wir müssen in Deutschland und gemeinsam in Europa alles dafür tun, dass wir unsere Demokratie schützen. Sie ist die Basis für alles andere. Auch für ein stärker eigenständiges Europa. Ein Blick nach NRW. Wie sehen Sie die Rolle des CDU-Ministerpräsidenten Hendrik Wüst? Herr Wüst ist zwar sehr aktiv in eigener Sache, aber es fehlt ihm an Tatkraft für unser Land Nordrhein-Westfalen. Er sollte mehr an Rhein und Weser denken und weniger an die Spree. Ein Beispiel: Anstatt nur auf den Bund zu zeigen, könnten wir einen Transformationsfonds in und für NRW auflegen, zur Gestaltung des Wandels in der Wirtschaft, besonders in der Industrie. Das Saarland macht vor, wie es gehen kann. Wir brauchen auch dringend industrielle und technologische Neuansiedlungen bei uns in NRW. Und warum sich Herr Wüst bei einem Altschuldenfonds zur Unterstützung der Kommunen so zurückhält, bleibt für mich ein Rätsel. Was steht in der Restrukturierung des Landesverbandes der NRW-SPD noch an? Wir haben wichtige Schritte gemacht: Der Parteitag hat die Landesspitze neu gewählt. Alle arbeiten richtig gut zusammen. Und wir haben wichtige Themen in den Mittelpunkt gestellt: gute Arbeit, nachhaltige Investitionen, ein starker Sozialstaat, handlungsfähige Kommunen. Unser Anspruch ist: Wir machen Politik für die Millionen, nicht für die Millionäre. Wenn wir uns auf diese Kernaufgaben konzentrieren, wird die SPD erfolgreich sein.

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