Der jüngste Streit der Ampelkoalition über die Flüchtlingspolitik der Europäischen Union ist vorerst entschärft. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) machte dem Vernehmen nach in der Kabinettssitzung am Mittwoch deutlich, dass eine Einigung auf ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem (GEAS) in der EU nicht an einer Auseinandersetzung in der Bundesregierung über die darin enthaltene Krisenverordnung scheitern dürfe.
Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) hatte zuvor Bedenken gegen diese Verordnung angemeldet, weil sie darin die Gefahr sah, dass im Krisenfall in einem Aufnahmeland noch mehr Flüchtlinge nach Deutschland kommen könnten. Zugleich hatten die Grünen aber auch davor gewarnt, dass die Standards für Flüchtlinge in Lagern an den EU-Außengrenzen womöglich gesenkt würden. Mit der Verordnung soll bei einem besonders starken Anstieg der Migration unter anderem der Zeitraum verlängert werden können, in dem Menschen unter haftähnlichen Bedingungen festgehalten werden. Damit ist nach FDP-Angaben Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) nicht einverstanden, weil es auch Familien mit Kindern betreffen würde.
Bei der Ansage von Scholz im fast vollständig versammelten Kabinett – nur Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) weilte bei einer Auslandreise – habe es sich nicht um ein Machtwort gehandelt, hieß es aus Regierungskreisen. Er habe seine Richtlinienkompetenz nicht geltend gemacht, sondern lediglich eine Klärung erwirkt.
Demnach habe der Kanzler die Notwendigkeiten des GEAS aufgelistet: darunter die Registrierung von Flüchtlingen an den EU-Außengrenzen, unmittelbare Zurückweisung von Asylbewerbern, die keine Aussicht auf ein Bleiberecht hätten, beschleunigte Rückführungen in Herkunftsländer, Abkommen mit Herkunftsländern und Grenzkontrollen in Nachbarländern. Dieses Herzstück des geplanten europäischen Asylsystems dürfe nicht mit der Positionierung zu einer Einzelheit wie der Krisenverordnung aufgehalten werden.
Der Kanzler habe schließlich gefragt, ob das im Kabinett alle so sähen wie er, oder ob es Widerspruch dagegen gebe, dass Innenministerin Nancy Faeser (SPD) die entsprechenden Vereinbarungen an diesem Donnerstag mit ihren europäischen Amtskollegen auf den Weg bringen solle. Daraufhin habe sich niemand gemeldet. Baerbock und Faeser haben über das Thema dann am Mittwochnachmittag noch einmal gesprochen. Das Ergebnis ist nicht bekannt.
Nach Informationen dieser Redaktion hat Scholz auch noch zu verstehen gegeben, dass die Äußerung des FDP-Generalsekretärs Bijan Djir-Sarai vom Wochenende, die Grünen seien ein Sicherheitsrisiko in der Regierung, nicht angemessen gewesen sei. In der Grünen-Bundestagsfraktion hieß es, es sei gut, dass es neue Verhandlungen gebe, um die Schwachstellen der Krisenverordnung zu beheben. Ob sich daraus tatsächlich Fortschritte ergäben, müsse sich jedoch erst noch zeigen. In grünen Parteikreisen hieß es weiter, niemand wolle, dass in den Kommunen noch mehr Menschen ankämen als jetzt. Deshalb sei die Krisenverordnung keine gute Lösung und in der Form, in der sie zuletzt vorlag, nicht tragfähig.
Die EU-Innenminister hatten sich Anfang Juni im Grundsatz auf das GEAS verständigt. Damals gab es in Teilen der Grünen Widerstand dagegen, vor allem gegen die Außengrenzverfahren. Nun wird auf EU-Ebene daran gearbeitet, den Grundsatzbeschluss in konkrete Vereinbarungen umzuwandeln.