Angst vor dem Dritten Weltkrieg: Experten sehen geschichtliche Parallelen

Bielefeld. Angst geht um. Die Angst vor einem Dritten Weltkrieg. Seit Russland im Februar eine groß angelegte Invasion auf die Ukraine gestartet hat, stellen sich viele Menschen Fragen, die schlaflose Nächte bereiten können: Wird sich der Konflikt ausweiten? Was ist, wenn NATO-Staaten attackiert werden? Und was ist, wenn sich Putin angesichts von Wirtschaftssanktionen und dem ernüchternden Fortschritt seiner Armee zu sehr in die Ecke gedrängt fühlt? Wenn er zu chemischen, biologischen oder atomaren Waffen greift? Befeuert werden diese Sorgen und Ängste dadurch, dass auf höchster Ebene genau solche Szenarien aufgerufen werden. Mit Verweis auf die Gefahr eines Dritten Weltkriegs hat Bundeskanzler Olaf Scholz mit der Lieferung schwerer Waffen lange gezögert. Und der Machthaber im Kreml hat es in seiner Rede zum Tag des Sieges über Nazi-Deutschland zwar zu seinen Aufgaben gezählt, alles zu tun, "damit sich der Schrecken eines globalen Krieges" nicht wiederhole. Doch noch zu Beginn des Angriffs ließ er seine Atomstreitkräfte in Alarmbereitschaft versetzen. Die weitere Entwicklung ist also mehr als ungewiss. Erhellend ist derweil aber ein Blick in die Vergangenheit. Denn immerhin hat die Menschheit schon zwei Weltkriege erlebt, von 1914 bis 1918 und von 1939 bis 1945. Welche Parallelen, welche Unterschiede erkennen Historiker? Eine neue Welt Danach gefragt, zieht Peter Fäßler, Professor für Zeitgeschichte an der Universität Paderborn, vor allem die Zeit zwischen den Weltkriegen als Vergleichsfolie heran. "Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs kam es zu einer geopolitischen Neuordnung", sagt Fäßler. Die Monarchien in Deutschland, Österreich-Ungarn und Russland wurden gestürzt. An die Stelle des deutschen Kaiserreichs trat nach der Novemberrevolution von 1918/1919 die Weimarer Republik. In der Nachkriegsordnung stand Deutschland auf der Verliererseite, musste die Bedingungen des Versailler Friedensvertrages erfüllen - etwa Reparationen für die Kriegsschäden zahlen, Gebiete abtreten und sein Heer begrenzen. "Das sorgte für große Verbitterung und Kränkung." Vor allem von äußerst rechten Politikern sei eine Revision der Geschichte gefordert worden, sagt Fäßler. Auch durch das Ende der Sowjetunion 1991 wurden Teile der Welt neu geordnet. "Damit will sich Russlands Präsident Wladimir Putin nicht abfinden." Auch er wolle die Zeit zurückdrehen, den Einflussbereich der ehemaligen Sowjetunion wiederherstellen. Ihr Ende bezeichnet er als "Tragödie". Und ähnlich wie Hitler werde er von Großmachtphantasien getrieben, versuche "historische Einheiten" zu konstruieren, sagt Fäßler. Wollte Hitler Österreich "Heim ins Reich" holen, spricht Putin der Ukraine die Eigenständigkeit ab. Lug und Betrug Um ihre Kriege zu begründen, argumentieren beide Machthaber in einer Kulisse aus Lügen. So begründete Hitler seinen Überfall auf Polen mit inszenierten Zwischenfällen an der Grenze zum Nachbarland, der wohl bekannteste ist der Überfall auf einen Radiosender bei Gleiwitz. Dabei täuschten deutsche Soldaten einen Angriff polnischer Freischärler vor. In einer geheimen Rede gegenüber Generälen gab Hitler offen zu, dass es darum gehe, auf diese Weise propagandistisch Anlass für den Krieg zu schaffen. "Der Zweite Weltkrieg begann mit einer Lüge", so Fäßler. Dass es auch Putin mit der Wahrheit nicht genau nimmt, dass er das Spiel mit Wahrheit und Lüge gezielt einsetzt, ist bekannt. So begründet der Machthaber im Kreml seine sogenannte "militärische Spezialoperation" in der Ukraine mit dem "Schutz eigener Landsleute". Ein enger Kreis Sowohl Hitler als auch Putin agieren dabei als Alleinherrscher, Letzterer in jedem Fall zumindest in einem "engen Führungskreis ohne demokratische Einhegung", sagt Fäßler. "Denn nach allem, was man weiß, ist Putin mit Entscheidungskompetenzen ausgestattet, die ihn unabhängig erscheinen lassen von der Duma, dem russischen Parlament." Sein Bruch mit der "konventionellen Politik" und sein erratisches Verhalten jenseits aller "berechenbaren Rationalität" seien damit umso schwerer zu stoppen. Es komme hinzu, dass laut Geheimdienstvertretern der USA und Großbritanniens einige seiner Berater Angst davor hätten, ihm die Wahrheit über seinen gescheiterten Krieg in der Ukraine zu sagen. Der Alleinherrscher herrscht also auf Basis einer dürftigen Informationslage. >>> Gibt es Parallelen zwischen Putin und Hitler? Die Waffen Doch beim Vergleich der Zeiten fallen natürlich auch Unterschiede ins Auge. Cyberwar, der in den Weiten des Internets ausgefochtene Krieg, war während des Ersten und Zweiten Weltkriegs kein Thema. Gleiches gilt für die Bedrohung durch Atomwaffen, die erst zum Ende des Zweiten Weltkriegs von den USA eingesetzt wurden und Japan zur Kapitulation zwangen. Christina Morina, Historikerin an der Universität Bielefeld, bezeichnet einen von einer Atommacht geführten Angriffskrieg diesen Ausmaßes als "Zäsur in der jüngeren Konfliktgeschichte, weil er ein so großes Eskalationspotential mit sich bringt." Durch den Einsatz von Atomwaffen würde aus einem "zwischenstaatlichen Konflikt potenziell noch viel schneller eine globale Konflikt- und Bedrohungslage als das in den beiden Weltkriegen, die ohne atomare Waffen begonnen wurden, der Fall war", sagt die Wissenschaftlerin. Schlicht, weil sich Atombomben mit ihrer enormen Sprengkraft und dem übers Land ziehenden giftigen Fallout weiträumiger auswirken. Für Sven Felix Kellerhoff, Leitender Redakteur für Zeit- und Kulturgeschichte bei der "Welt", verbindet sich zumindest mit den Atomwaffen der USA aber auch eine gewisse Hoffnung. Die Hoffnung nämlich, dass Putin nach seinem Expansionskrieg gegen die Ukraine nicht weiter gen Westen marschieren wird. "Denn der US-Atomschirm gilt für alle NATO-Mitgliedsstaaten." Gleichwohl lässt sich festhalten: Seinen Krieg in der Ukraine kann Russland weitgehend unbehelligt von anderen Staaten führen, weil es die Atombombe in der Hinterhand hat. Die ultimative Abschreckung für all jene, die eingreifen wollen, was Putin auch genauso unterstreicht: "Jeder, der versucht, sich bei uns einzumischen oder mehr noch, eine Bedrohung für unser Land und unser Volk zu schaffen", sagte der Kreml-Machthaber, "muss wissen, dass Russlands Antwort sofort erfolgen und zu solchen Konsequenzen führen wird, die Sie in Ihrer Geschichte noch nie erlebt haben." Dabei geschieht die Einmischung schon längst: In Form von Waffenlieferungen. Dazu sagt Historikerin Morina: "Was derzeit passiert im Rahmen einer systematischen Belieferung eines angegriffenen Landes durch NATO-Staaten während eines laufenden Krieges, die ich richtig finde, scheint mir für die Zeit nach 1945 eine neue Dimension zu sein." Ein Schutzbündnis Ein weiterer Unterschied: Die 1949 gegründete NATO. Unter dem Dach des Bündnisses bieten 30 Staaten in Europa und Nordamerika einander Schutz. Es ist ein reines Verteidigungsbündnis und "grundsätzlich nicht auf eine offensive, eskalierende Logik hin angelegt", sagt Morina. Und auch Peter Fäßler betont: "Das Abschreckungspotenzial ist sehr hoch." Ein Krieg gegen die NATO sei für Putin nicht zu gewinnen, meint Fäßler. Dadurch wirke die NATO auf die Dynamik von Konfliktsituationen eher beruhigend. Eine Entgrenzung des Krieges macht sie aus Sicht des Forschers eher unwahrscheinlicher. Eine geprägte Gesellschaft Und einer der vielleicht wichtigsten Unterschiede: die Erfahrung der beiden Weltkriege selbst. "Wir sind heute viel besser informiert und hoffentlich auch unendlich mehr sensibilisiert dafür, wie sich Konflikte entwickeln können", sagt Morina. "Zugleich sollte man gerade die Geschichte der Moderne nicht als die Entwicklung hin zu einer zwangsläufig immer besser werdenden Welt betrachten", so die Historikern. Das weiß die Menschheit und das berücksichtigt auch die Bundesregierung. Ihre "moderate Haltung" etwa in Sachen Waffenlieferungen, sei angemessen, findet Morina, doch deren Zustandekommen, und auch das Ringen darum, müssten klarer vermittelt werden. Von der teils heftigen Kriegsbegeisterung etwa am Vorabend des Ersten Weltkriegs, von der Bereitschaft also, "Großmachtfragen militärisch auszutragen und dafür bewusst hohe Risiken in Kauf zu nehmen": Davon sei man heute im Westen weit entfernt. Das unterstützt Fäßler. "Der Kampf für das Vaterland, auch der Ehrbegriff hatten damals eine ganz andere Konnotation. Das hat sich heute fulminant geändert", sagt der Historiker. Es werde heute "sehr abwägend" in Szenarien gedacht. "1914 ging man davon aus, der Krieg dauert nur Monate. Heute wird darüber nachgedacht: Was ist, wenn aus dem Krieg ein Atomkrieg wird?" Es ist zu hoffen, dass diese Frage unbeantwortet bleibt.

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