Waffenlieferungen an die Ukraine

Wo ist der Streit geblieben? Die Grünen zwischen Krieg und Frieden

Im Angesicht der Schlachtfelder in der Ukraine habe sich die Partei leichtfertig vom Pazifismus gelöst, sagen all jene, die bis heute ihre gewaltfreien Gründungsmotive hochhalten.

In den Anfangsjahren war Petra Kelly das Gesicht der Grünen (hier bei einer Veranstaltung 1982). Inzwischen ist die Partei längst nicht mehr die, die sie einmal war. | © SWR – Das Erste/dpa

28.04.2022 | 28.04.2022, 12:54

Bielefeld. Den Krakeelern ist eine ernsthafte Debatte egal, das zeigen sie eindrucksvoll, als Robert Habeck auf das Podest steigt. Unter garstigen "Hau ab"- und "Kriegstreiber"-Rufen, abgelöst von gellenden Pfiffen aus Trillerpfeifen, versucht der grüne Vizekanzler bei einer "Townhall-Diskussion" seiner Partei in Bielefeld, auf die gravierende Frage von Krieg und Frieden einzugehen. Derzeit werde "das Bild gemalt, dass die Grünen ihre Prinzipien verraten", erklärt er der ruhigen Mehrheit auf dem Platz. "Ich kann nur sagen: Nein, so ist es nicht."

Eigentlich ist die Sache klar, findet Habeck: Die Grünen, gegründet unter explizit gewaltfreien Motiven, blieben sich im Angesicht des russischen Angriffs auf die Ukraine treu – trotz der von ihnen geforderten Lieferung schwerer Waffen an Kiew. Zunächst sollten die erst gar nicht geschickt werden, nun hat Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) der Ukraine doch Flugabwehrpanzer zugesagt, bevor der Druck auch der Grünen in der Koalition zu groß geworden wäre. Es sei immer so gewesen, sagt Habeck, dass "die Partei sich, seitdem sie Regierungsverantwortung angestrebt hat, zur Gestaltung der Wirklichkeit bekannt" habe. So sei sie stark geworden.

Habeck findet, ein bedingungsloser Pazifismus macht die Welt nicht besser. Neu ist das nicht; bereits im November 2019 hat er seine Haltung in einem Gespräch mit dem früheren grünen Außenminister Joschka Fischer offengelegt. Vor dem Hintergrund einer möglichen Regierungsbeteiligung seiner Partei zitierten einige Habeck so: "Wir werden schwerste Entscheidungen zu treffen haben."

In überregionalen Zeitungen liest man nun trotzdem Essays, wonach die Grünen sich leichtfertig vom Pazifismus verabschiedet hätten. Weder in der Partei noch in ihrem Milieu würde gar über Kriegseinsätze gestritten. Ist das so?

Der Bielefelder Parteitag '99 hat sich tief in die Erinnerung eingebrannt

Die frühere grüne Bundestagsabgeordnete Annelie Buntenbach aus Bielefeld gehört zu den ersten Unterzeichnerinnen eines Aufrufs gegen "die größte Aufrüstung Deutschlands seit Ende des Zweiten Weltkriegs". In dem Appell geht es um das geplante Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr. Doch auch die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine lehnt Buntenbach ab. Sie sagt, dass "das Eskalationsrisiko bis hin zu einem dritten Weltkrieg von vielen nicht genügend berücksichtigt wird". Aus Sicht der ehemaligen Gewerkschaftsfunktionärin haben die Grünen ihre Position zum Pazifismus allerdings weit vor diesem Krieg geändert. "Die Entscheidungen, die jetzt getroffen werden", sagt sie, "erklären sich nicht allein aus dem akuten emotionalen Druck des Kriegsgeschehens."

Der 13. Mai 1999 hat sich tief in Buntenbachs Erinnerung eingebrannt. Es war die Zeit, als der Bürgerkrieg auf dem Balkan endgültig auf den Kosovo übergriff und die NATO strategische Ziele im früheren Jugoslawien bombardierte. Die Kriegsfrage war für die Grünen, die gerade erst in die Regierungskoalition mit der SPD eingetreten waren, so fundamental, dass der parteiinterne Konflikt nur durch einen Sonderparteitag gelöst werden konnte.

Der Bielefelder Parteitag ging als der härteste in die Geschichte der Grünen ein. Der Konflikt gipfelte in einem Farbbeutelwurf auf Joschka Fischer – der Minister war für den Kriegseinsatz und die deutsche Beteiligung. Robert Habeck spricht bis heute vom "ikonischen Moment von Bielefeld". 444 Befürworter setzten sich am Ende gegen 318 Gegner durch.

"Die neue Realität hat vieles grundlegend auf den Kopf gestellt"

Eine tiefe Wunde gerissen hat dieser Tag bei all jenen in der Partei, die bis dahin die gewaltfreien Gründungsmotive hochhielten. In Nordrhein-Westfalen trat nach der Entscheidung jedes fünfte Mitglied aus der Partei aus, neue Mitglieder traten ein. "Es war ein Kommen und Gehen", sagt Annelie Buntenbach, "gewissermaßen ein partieller Mitgliederaustausch."

Wo ist der Streit heute geblieben? Die Landesvorsitzende der NRW-Grünen, Mona Neubaur, sagt, die "neue Realität, die seit dem 24. Februar herrscht, hat vieles grundlegend auf den Kopf gestellt". Das zu akzeptieren, sei "sicher nicht einfach, aber es ist notwendig". Neubaur, Spitzenkandidatin der Grünen zur NRW-Landtagswahl im Mai, erlebe aktuell "eine Partei, die sich ihrer politischen Relevanz bewusst ist, die in aller Ernsthaftigkeit diskutieren möchte, die aber auch bereit ist, Haltung zu zeigen und Verantwortung zu übernehmen".

Auch die Fraktionschefin der Grünen im nordrhein-westfälischen Landtag, Verena Schäffer, hebt die lange gelebte Diskussionsfreude ihrer Partei hervor. In den Debatten kämen auch kritische Stimmen zu Wort, sagt sie, "Bedenken werden aufgenommen". Zugleich spricht Schäffer von einer "großen Geschlossenheit" innerhalb des größten Landesverbandes. Auch an den Infoständen im Wahlkampf "geben uns viele Bürgerinnen und Bürger die Rückmeldung, dass sie Waffenlieferungen an die Ukraine befürworten".

Eine Partei sei nun einmal "keine statische Organisation"

Die Grünen sind lange nicht mehr die Grünen, die sie einmal waren. Sie sind von einer randständigen Partei zu einer geworden, die ihre Wählerschaft in der Mitte der Gesellschaft sucht. "Früher haben wir Entscheidungen darüber, wie wir uns als Grüne zu Krieg und Frieden aufstellen, noch mit großen Minderheiten getroffen", erzählt Buntenbach und stellt fest: "Das ist offensichtlich heute anders, in dieser Regierungskoalition geht es nun schneller voran" – eine Partei sei nun einmal "keine statische Organisation".

Regierungsverantwortung hin oder her – kritisch geäußert hat sich häufig die unabhängige Jugendorganisation. Erkundigt man sich heute bei der Grünen Jugend – Selbstbezeichnung: "jung, grün, stachelig" –, ob sie zu den Lieferungen schwerer Waffen an die Ukraine eine größere Diskussion erlebt, wird einem von der Pressestelle mitgeteilt, dass es "unsere Bundessprecher*innen aus zeitlichen Gründen leider nicht schaffen, die Frage zu beantworten".