Wahl ohne Wahlsieger: So würde die Kanzlerwahl ablaufen

Berlin/Bielefeld. In einem Monat wählt Deutschland einen neuen Bundestag. Die Umfragen deuten seit Wochen auf ein knappes Rennen zwischen den Parteien hin. Mittelwerte der aktuellen Umfragen zeigen ein Kopf-an-Kopf-Rennen von Union und SPD, kurz dahinter die Grünen. Experten sehen deshalb die Möglichkeit, dass es keinen klaren Wahlsieger geben wird. Ein Ergebnis, das nicht nur die Regierungsbildung erschweren könnte, sondern auch die Kanzlerwahl, denn in der Regel schlägt der Bundespräsident den Kanzlerkandidaten der stärksten Partei vor. Doch wie läuft die Kanzlerwahl ohne Wahlsieger ab? "Knappe Wahlergebnisse haben nicht grundsätzlich schwierige Regierungsbildungen zur Folge, doch je mehr Parteien für eine Koalition nötig werden, desto schwieriger wird die Kompromissfindung und damit auch die Regierungsbildung sowie die Kanzlerwahl", erklärt Julia Merdian, wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Fakultät für Rechtswissenschaft an der Universität Bielefeld. "Für alle Fälle trifft das Grundgesetz jedoch Vorkehrungen." Bundespräsident schlägt Kandidaten vor Nach der Wahl schlägt der Bundespräsident nach Angaben des Bielefelder Verfassungsrechtlers Andreas Fisahn einen Kanzlerkandidaten vor. "In der Regel ist das der Kandidat der stärksten Partei, weil er die größten Chancen hat, vom Bundestag gewählt zu werden. Doch das muss er nicht sein. Der Bundespräsident kann auch den Kandidaten einer schwächeren Partei vorschlagen, der aufgrund einer Koalition bessere Erfolgsaussichten hat." Fisahn nennt dafür ein Beispiel: "Auch wenn die Union die meisten Wählerstimmen erhält, muss der Bundespräsident nicht zwingend Kanzlerkandidat Armin Laschet vorschlagen. Gibt es eine Mehrheit für Rot-Rot-Grün könnte der Bundespräsident auch SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz oder die Grüne-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock vorschlagen." Fisahn hält diese Koalition nicht für wahrscheinlich. "Doch möglich ist das." Aus diesem Grund wartet der Bundespräsident nach Angaben Merdians vor seinem Vorschlag stets die Verhandlungen der Parteien zu möglichen Koalitionen ab. "Das Abwarten des Bundespräsidenten ist wichtig, da es sich um eine politische Entscheidung handelt und seine Rolle als Staatsoberhaupt politische Zurückhaltung verlangt." Dauern Koalitionsgespräche zu lange, könne der Bundespräsident allerdings Druck ausüben, indem er einen Kandidaten vorschlägt oder zu Koalitionsgesprächen auffordert, wie zuletzt 2017. Erste Wahlphase In jedem Fall muss laut Merdian der Bundestag über den Vorschlag des Bundespräsidenten abstimmen. "Zu einer erfolgreichen Wahl benötigt der Kanzlerkandidat in der ersten Wahlphase die absolute Mehrheit der Abgeordnetenstimmen, also mehr als die Hälfte der Mitglieder des Bundestages." Bislang ist noch jeder Bundeskanzler in der ersten Wahlphase gewählt worden, doch das könnte sich dieses Jahr ändern. "Erhält der Kanzlerkandidat in der ersten Wahlphase nicht die absolute Mehrheit, können sich noch zwei weitere Wahlphasen anschließen." Zweite Wahlphase Scheitert der erste Wahlgang, habe der Bundestag 14 Tage Zeit, einen oder mehrere Kandidaten zu benennen und einen davon zum Kanzler zu wählen, erklärt Merdian, die sich in ihrer Dissertation mit den Möglichkeiten der Regierungsbildung nach dem Grundgesetz befasst. Die Zahl der Wahlgänge ist laut Merdian dabei nicht begrenzt, allerdings ist auch hier die absolute Mehrheit nötig. Dritte Wahlphase "Ist die zweite Phase ebenfalls nicht erfolgreich, muss das Parlament in einer dritten Phase erneut abstimmen. Gewählt ist dann, wer die meisten Stimmen erhält, es reicht also eine relative Mehrheit", erklärt die Rechtswissenschaftlerin. Dann kommt erneut der Bundespräsident ins Spiel: "Erreicht ein Kanzlerkandidat in der dritten Phase nur die relative Mehrheit, hat der Bundespräsident zwei Möglichkeiten. Entweder ernennt er den Kandidaten zum Kanzler oder er löst den Bundestag auf, was zu Neuwahlen führen würde." Neuwahl Ernennt der Bundespräsident einen Kandidaten, der nur die relative Mehrheit erreicht hat, kann das zu einer Minderheitsregierung führen. "Also eine Regierung ohne absolute Mehrheit im Parlament, die häufig von vornherein verteufelt wird, obwohl sie im Ausland nicht unüblich ist und auch in deutschen Bundesländern bereits funktioniert hat." Eine solche Regierungsform muss sich laut Merdian immer Mehrheiten suchen, um Gesetze beschließen zu können. "Es ist also keine Minderheit, die regiert, sondern eine Regierung, die mit wechselnden Mehrheiten arbeitet." Nach Einschätzung Merdians ist die Neuwahl stets die schlechteste Alternative. "Parteien müssen mit den Wahlergebnissen arbeiten, die sie erhalten und nicht so lange abstimmen lassen, bis sie ein Wahlergebnis erhalten, das besser passt." Zudem zeigen Beispiele aus dem Ausland, dass Neuwahlen häufig nicht den erwünschten Effekt einer Verbesserung erzielen. "Israel zeigt das eindeutig." Außerdem schade das Vorgehen dem Vertrauen der Bevölkerung in das Parlament und fördere Politikverdrossenheit. Vergleichbare negativen Folgen können nach Einschätzung Merdians auch drohen, wenn Koalitionsverhandlungen sehr lange dauern. "Je länger Verhandlungen dauern, desto mehr Vertrauen kann verloren gehen. Außerdem hätte das zur Folge, dass die eigentlich abgewählte Bundesregierung weiter im Amt bleiben muss, obwohl ihr Auftrag verbraucht ist." !function(){"use strict";window.addEventListener("message",(function(e){if(void 0!==e.data["datawrapper-height"]){var t=document.querySelectorAll("iframe");for(var a in e.data["datawrapper-height"])for(var r=0;r

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