
Berlin. Bund und Länder haben eine Kehrtwende in der Corona-Politik vollzogen. Der Lockdown wird zwar bis zum 28. März verlängert, aber ab dem 8. März kommen Öffnungsschritte. Lockerungen sollen nicht mehr an eine Sieben-Tage-Inzidenz von 35 geknüpft werden. Stattdessen wurde ein Stufenplan beschlossen, der Öffnungen schon bei einer Inzidenz von 50 und sogar 100 vorsieht. Hier sind erste Reaktionen auf die Beschlüssen:
Politik - das sagt die Opposition
Der Grünen-Vorsitzende Robert Habeck sagte im Deutschlandfunk, angesichts einer beginnenden dritten Corona-Welle sollten vor Öffnungen zunächst Fortschritte beim Impfen, Testen und bei der Nachverfolgung von Kontakten erzielt werden. Das stattdessen vereinbarte Vorgehen sei aus seiner Sicht „nicht klug", erklärte er: „Es wird auf Hoffnung gesetzt, das ist aber keine Strategie." Die Öffnungsbeschlüsse hinterließen bei ihm „ein mulmiges Gefühl". „Hoffentlich bezahlen wir das nicht damit, dass wir Ostern wieder im Lockdown sitzen", sagte er.
Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner kritisierte, dass Deutschland beim Testen als „Baustein für mehr Freiheit" nicht weiter sei. Er sprach von einem „groben Versagen" der Bundesregierung. Dass es einen Stufenplan für Lockerungen gebe, sei zwar zu begrüßen, sagte Lindner im Deutschlandfunk. Angesichts enormer sozialer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Risiken halte er die Ausgestaltung der einzelnen Stufen jedoch für „noch nicht ambitioniert genug".
Die AfD-Fraktionschefs Alice Weidel und Alexander Gauland haben die anvisierten Lockerungen der Corona-Auflagen als unzureichend kritisiert. Von einer Ausstiegsperspektive könne keine Rede sein angesichts "dieser konfusen und undurchschaubaren Anhäufung von willkürlich aus dem Hut gezogenen Regeln, Zahlenwerten und Bedingungen", so Weidel.
Wirtschaft
Die Ergebnisse des Corona-Gipfels sind in der Wirtschaft weitgehend mit Enttäuschung aufgenommen worden. Faktisch werde der Lockdown für die große Mehrheit der Nicht-Lebensmittelhändler bis Ende März verlängert, sagte Stefan Genth, Hauptgeschäftsführer des Handelsverbands HDE: "Die Ergebnisse des Corona-Gipfels sind für den Einzelhandel eine Katastrophe." Eine stabile Inzidenz von unter 50, die für eine Wiedereröffnung aller Geschäfte als Bedingung genannt wird, sei auf absehbare Zeit wohl nicht flächendeckend zu erreichen. „Die Politik orientiert sich weiter stur ausschließlich an Inzidenzwerten. Dieses Vorgehen erscheint zunehmend fragwürdig."Die Verlängerung des Lockdowns bis zum 28. März koste die geschlossenen Handelsunternehmen rund zehn Milliarden Euro Umsatz. Gleichzeitig kämen staatliche Hilfszahlungen nur spärlich an, sagte Genth. Es gebe keine vernünftigen Argumente, den Einzelhandel weiterhin geschlossen zu halten. Der HDE setze sich weiterhin für eine Öffnung aller Geschäfte unter Einhaltung von Hygiene- und Abstandsregeln ein.
Die Beschlüsse stürzten die Textil-und Modeindustrie noch tiefer in die Krise, klagt Ingeborg Neumann, Präsidentin des Gesamtverbandes der deutschen Textil-und Modeindustrie: „Der verlängerte Lockdown setzt die Umsatzvernichtung für die heimische Mode-und Textilindustrie fort. Durch die Beschlüsse summieren sich zwei ausgefallene Ostergeschäfte und ein Weihnachtslockdown in den Bilanzen unserer mittelständischen Mode-und Textilhersteller, viele davon Traditions-und Familienunternehmen. Die Rücklagen sind aufgebraucht, die Unternehmen bekommen keine Chance, sich von Umsatzrückgängen bis zu 45 Prozent zu erholen. Im Gegenteil: Die unausgegorenen Corona-Teststrategien und die schleppenden Impfungen zerstören die Aussichten auf eine wirtschaftliche Erholung des Einzelhandels."
Handwerks-Präsident Hans Peter Wollseifer sagte: „Die Bund-Länder-Beschlüsse bringen für viele unserer von Schließungen betroffenen Betriebe nicht die erhoffte Öffnungsoption schon in nächster Zeit." Bei dem Treffen sei „deutlich mehr drin gewesen". Um ein Firmensterben „auf breiter Front" zu verhindern, müsse wirtschaftliches Leben schnellstens wieder ermöglicht werden, sofern dies epidemiologisch vertretbar ist. Auch Wollseifer kritisierte die „Fixiertheit allein auf Inzidenzwerte", die fehlende Berücksichtigung der Hygienekonzepte in den Betrieben und das schleppende Impftempo.
Eine Beschleunigung der Impfungen und eine intelligente Teststrategie forderte auch der Deutsche Reiseverband (DRV). „Es ist inakzeptabel, dass wir aufgrund des Fehlens von Tests und des viel zu langsamen Impfprozesses gezwungen werden, weitere Monate im Lockdown zu verharren", sagte DRV-Präsident Norbert Fiebig den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Fiebig fordert die Politik auf, ihre Appelle zum Reiseverzicht zu beenden. „Organisierte Reisen sind nachweislich nicht Treiber der Pandemie - das sagen nicht wir, das sagt das RKI in einer aktuellen Studie."
Die Autoindustrie sieht in den Beschlüssen "Grund für vorsichtigen Optimismus". Die meisten Autohändler seien auf Click & Meet "bestens vorbereitet", erklärte am Donnerstag der Verband der Internationalen Kraftfahrzeughersteller (VDIK) in Berlin. Bei Click & Meet können Kunden einen Termin reservieren und damit dann ein Geschäft auch betreten. Der VDIK erklärte, im Autohandel gebe es sehr große Verkaufsflächen in Relation zur täglichen Kundenzahl; Hygienekonzepte, Terminvereinbarung und Kontaktnachverfolgung seien eingeübt. Auch weitergehende Öffnungen könne der Autohandel mit diesen Konzepten sicher umsetzen, erklärte der VDIK.
Hotel- und Gaststättengewerbe
Der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband NRW kritisiert die Beschlüsse: "Wir stehen nach mehr als vier Monaten mit fast leeren Händen da und werden wieder auf das nächste Treffen vertröstet, anstatt den niedrigen Risiken in unseren Betrieben Rechnung zu tragen und auch Restaurants, Kneipen oder Hotels in eine Öffnungsstrategie einzubinden", kritisiert Bernd Niemeier, Präsident des DEHOGA Nordrhein-Westfalen. Auch wenn die Abkehr vom reinen Festhalten an Inzidenzwerten, regionale Maßnahmen bei entsprechenden Infektionslagen und die angekündigten Öffnungsmöglichkeiten für die Außengastronomie richtige und wichtige Schritte sind, fehlen die klare Perspektive und Öffnungsschritte für den Rest der Branche. Der DEHOGA NRW fordert deshalb sofort eine Ausweitung weiterer staatlicher Entschädigungsleistungen.
Die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten beklagt die Perspektivlosigkeit für Beschäftige in Restaurants, Bars und Hotels. „Hunderttausende Beschäftigte in geschlossenen Restaurants, Bars und Hotels gehen in den fünften Lockdown-Monat. Und trotzdem sind Kanzlerin Merkel und die Regierungschefinnen und -chefs auch weiterhin nicht in der Lage, ihnen eine konkrete, realistische Perspektive zu geben", sagte NGG-Chef Guido Zeitler nw.de. „Die Frustration ist riesig, die Wut wächst mit jedem Tag im Lockdown." Die Politik lasse Köchinnen, Kellner und Hotelfachleute gleich doppelt im Stich, so Zeitler: "Ihnen wird weder aufgezeigt, wann sie wieder Geld verdienen dürfen, noch werden sie ausreichend finanziell unterstützt. Sie sollen den Schneckenstart beim Impfen und die verschlafene Test-Strategie ausbaden." Dabei fehle „jede schlüssige Erklärung, warum in anderen Branchen unter bestimmten Bedingungen wieder gearbeitet werden darf, Restaurants und Hotels aber auf unbestimmte Zeit weiter geschlossen bleiben", so der NGG-Chef.
Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft
Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) hat enttäuscht auf die Ergebnisse reagiert und den Ländern vorgeworfen, die notwendigen Voraussetzungen für die Schulöffnungen nicht zu schaffen. „Das Ergebnis der Videoschalte zwischen Kanzlerin Angela Merkel (CDU) sowie den Ministerpräsidentinnen und -präsidenten ist für den Bildungsbereich mehr als enttäuschend", sagte GEW-Chefin Marlis Tepe nw.de. „Die Länder öffnen Schulen und Kitas weiterhin, wie sie wollen – ohne die notwendigen Voraussetzungen zu schaffen", setzte sie hinzu. „Wer Schulen und Kitas öffnen will, muss testen und impfen", sagte Tepe. „Schnelltests für Lehrkräfte sowie Schülerinnen und Schüler sollen erst im April kommen, einmal in der Woche soll getestet werden - zu selten, um die Gesundheit aller wirksam zu schützen", kritisierte die Gewerkschaftschefin. „Auch eine Impfstrategie gibt es nicht - Impfangebote für Lehrkräfte an weiterführenden Schulen lassen weiter auf sich warten, obwohl die Länder auch diese Einrichtungen trotz steigender Inzidenzwerte und der wachsenden Gefahr durch Corona-Mutationen schrittweise öffnen wollen."
Hausärzte
Hausärzte forderten nach der Bund-Länder-Vereinbarung zu einer stärkeren Einbeziehung von niedergelassenen Ärzten bei den Corona-Impfungen bürokratische Entlastungen. Um neben der Versorgung der Patienten auch die Impfungen sowie die zusätzlichen Tests vornehmen zu können, müsse jeglicher vermeidbarer Aufwand wegfallen, sagte der Bundesvorsitzende des Deutschen Hausärzteverbandes, Ulrich Weigeldt, den Zeitungen der Funke Mediengruppe.
Intensivmediziner
Sie befürchten, dass die Schritte bereits zu weitgehend sind. "Die Sorge ist, dass wir deutlich steigende Zahlen an Neuinfektionen – und damit mit einem zeitlichen Versatz von zehn bis 14 Tagen – an Intensivpatienten mit Covid-19 haben werden", sagte Gernot Marx, Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin
Städte- und Gemeindebund
Kritik äußert der Deutsche Städte- und Gemeindebund an der beschlossenen Teststrategie. Hauptgeschäftsführer Gerd Landsberg sagte der Düsseldorfer Rheinischen Post, die Beschlüsse zu den Schnell- und Eigentests seien zu unkonkret. Der Landkreistag kritisierte den Stufenplan von Bund und Ländern als „sehr kompliziert". „Ich weiß nicht, ob das in der Bevölkerung gut nachvollzogen werden kann", sagte Präsident Reinhard Sager den Funke-Zeitungen.
Mit Material von dpa, AFP und Reuters.