Eine Obdachlose erzählt vom Leben auf der Straße – und ihrem Neustart

Als sie sich Hilfe holen wollte, war es schon zu spät. Zu lange hatte Heidi die Briefe nicht aufgemacht, die nach dem Tod ihres Mannes zu Hause eintrafen. &bdquo;Ich wusste nicht, wo mir der Kopf steht“, sagt sie. Heidi, die eigentlich anders heißt, sitzt in einem Café in der Berliner Innenstadt. Von hier sind es nur ein paar Gehminuten bis zu dem U-Bahnhof, der eine Weile mehr für sie war als eine Haltestelle. Wo andere Menschen ein- und aussteigen und schnell wieder weg sind, schlug Heidi ihr Zelt auf, weil sie ihr Zuhause verloren hatte. Zweieinhalb Jahre lang lebte Heidi auf der Straße. Sie gehörte damit zu einer Gruppe von Menschen, die in der Öffentlichkeit oft unsichtbar bleibt: obdachlose Frauen. Dabei sind etwa 20 Prozent der Obdachlosen weiblich. Bei den Wohnungslosen – also den Menschen, die zwar keine Wohnung haben, aber noch irgendwo unterkommen – machen Frauen sogar mehr als ein Drittel aus. Heidi – braune Haare, wacher Blick, gepflegte Kleidung – spricht leise, als sie darüber redet, was das heißt. Nachdem sie die Rechnungen nicht mehr beglichen hatte, verlor sie irgendwann ihre Wohnung. Ein halbes Jahr war sie allein auf der Straße, tat sich dann mit jemandem zusammen. Obdachlose seien eine Gemeinschaft, erzählt die 49-Jährige, man helfe sich gegenseitig. Ihr Kollege, wie sie ihn nennt, habe auf sie aufgepasst. Und dann war da auch noch ihr Hund, der seine Zähne zeigen konnte. &bdquo;Mir ist keiner ans Zelt gekommen“, erinnert sie sich. &bdquo;Ich habe aber auch ein bisschen Glück gehabt“, sagt sie. &bdquo;Manche Frauen haben das nicht.“ Wohnungslose Frauen sind häufiger Gewalt ausgesetzt Dass das Leben auf der Straße hart ist, gilt für Frauen und Männer gleichermaßen. Für Frauen birgt es aber noch mehr Gefahren. Laut dem Wohnungslosenbericht der Bundesregierung von 2022 sind sie häufiger Gewalt ausgesetzt als Männer – und werden deutlich häufiger Opfer sexueller Übergriffe. Hinzu kommt, dass einige ihre Not ausnutzen und sie zur Prostitution drängen wollen. &bdquo;Die denken, man ist Freiwild“, sagt Heidi. Sie selbst habe immer klar ausdrücken können, was sie wolle und was nicht, und durch den Verkauf von Zeitungen etwas verdient. Das gelingt aber längst nicht allen obdachlosen Frauen. Und noch viel weniger schaffen es weg von der Straße. Schon gar nicht allein. Auch Heidi, die eine Zeit lang Drogen wie Heroin nahm, brauchte dafür Hilfe. Lesen Sie auch: &bdquo;Ist eine riesige Überwindung“: Warum zwei Bielefelder wohnungslos sind Es waren die Helferinnen und Helfer der Berliner Stadtmission, die Heidi fanden und in eine Einrichtung für Obdachlose brachten. An diesem verregneten Wintermorgen sitzt deren Sprecherin Barbara Breuer ebenfalls im Café. Breuer wird später sagen, es sei bemerkenswert, dass Heidi nach der jahrelangen Obdachlosigkeit und all den belastenden Erlebnissen noch bei so klarem Verstand sei. Ein Großteil der Frauen auf der Straße habe starke psychische Probleme – vielleicht, weil sie vorher schon da waren, vielleicht aber auch, weil die Obdachlosigkeit sie krank gemacht habe. &bdquo;Es ist eine permanente Bedrohungssituation, als Frau auf der Straße zu sein“,sagt Breuer. Bei den Frauen geht es oft auch um die Kinder Die Gründe, aus denen Frauen auf der Straße landen, sind vielfältig: Sucht, Gewalt in der Partnerschaft, Verlust des Arbeitsplatzes, Mietschulden. Oft auch eine Kombination. Vieles davon trifft auch Männer, aber eine Sache ist bei obdachlosen Frauen anders: Deutlich häufiger als bei Männern sind zusätzlich Kinder im Spiel. Auch bei Heidi war das der Fall. Als sie ihre Wohnung verlor, kamen ihre drei Kinder in eine Kriseneinrichtung. Heidis Stimme stockt, als sie darüber spricht. &bdquo;Ich konnte sie doch nicht auf die Straße mitnehmen“, sagt sie und senkt den Blick. &bdquo;Dann musste ich sie halt ...“. Sie bricht ab, weil ihr die Tränen kommen. So viele wie nie: Rund 13.000 Menschen in OWL haben kein eigenes Zuhause Eigentlich sind Kommunen dazu verpflichtet, ihre Bürgerinnen und Bürger bei Obdachlosigkeit unterzubringen. Für Familien gilt das besonders. Doch dafür müssen Betroffene die Hilfsangebote kennen – und sie auch in Anspruch nehmen. Erfolgt das wie bei Heidi zu spät, kann es sein, dass Ämter eingreifen, damit Kinder nicht auf der Straße landen. In Notunterkünfte dürfen sie in der Regel nicht mitgenommen werden. Aber auch wenn keine Kinder betroffen sind, werden gemischtgeschlechtliche Unterkünfte von Frauen oft gemieden, beobachtet die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W). Sie pocht deshalb auf ein Wohnungskontingent für wohnungslose Frauen und Familien. Die erste warme Mahlzeit am Tag Ein paar Stunden später, es ist bereits Abend, läuft Barbara Breuer durch die Gänge der Notunterkunft an der Lehrter Straße im Bezirk Mitte. &bdquo;Die Leute kommen, wie sie kommen. Wir wollen niemanden abweisen“, sagt sie. Nur Waffen, Alkohol und Gewalt sind tabu. 125 Schlafplätze bietet die Stadtmission, ein Verein unter dem Dach der Evangelischen Kirche, hier an, oft werden es aber mehr. &bdquo;Über uns sind 25 Betten für Frauen“, sagt Breuer und zeigt zur Decke. Die Frauenbetten befinden sich in einem gesonderten Bereich, verteilt auf mehrere Schlafsäle. Noch ist es ruhig in den Gängen und im Speisesaal, wo die letzten Vorbereitungen laufen. &bdquo;Hier kommen die Gäste an und bekommen etwas zu essen“, erklärt Breuer. Denn wer hierherkommt, ist nicht nur auf der Suche nach einem Dach über dem Kopf, sondern auch nach einer warmen Mahlzeit. Manchmal ist es die erste am Tag. Der Einlass hat noch nicht begonnen, vor der Tür warten bereits Dutzende. Die meisten sind Männer, aber zwischen ihnen steht auch Jenny und unterhält sich mit einer kleinen Gruppe Wartender. Die 33-Jährige ist seit drei Monaten in Berlin und ohne feste Unterkunft. Zwar hat sie für heute schon eine Bleibe, aber Jenny, auch sie wird hier nicht mit ihrem echten Namen genannt, sucht die Gemeinschaft. Und sie will reden: Die meiste Zeit ohne Obdach habe sie in der BVG verbracht, sagt sie; den Berliner Verkehrsbetrieben. Wieso Jenny auf der Straße lebt &bdquo;Du fährst so lange U-Bahn und S-Bahn, bis die vorbei ist, dann mit den Bahnen zum Flughafen. Und dann gehst du morgens wieder raus“, sagt sie und gestikuliert dabei mit ihren Händen. Zwischendurch sei sie immer wieder in Notunterkünften untergekommen, wie auch in dieser Nacht. Allein auf der Straße war sie aber nie. &bdquo;Als Frau musst du dir das nicht antun mit einem Zelt im Park. Dann ist mindestens dein Schuh weg. Oder deine ganze Würde.“ Lesen Sie auch: &bdquo;Lieber auf der Straße“: Immer mehr Jugendliche verlassen ihre Familien Wieso sie auf der Straße ist? Jenny erklärt das mit einer Mischung aus Traumata und Drogensucht. Cannabis, Partydrogen, Tilidin: Um ihre Süchte zu finanzieren, habe sie auch schon ihren Körper angeboten. &bdquo;Ich unterhalte mich mit jemandem, und dann machen wir einen Deal, ob ich im Auto mitfahre oder wir ins Hotel gehen“, sagt sie. Aber eigentlich will sie wegkommen von den Drogen, und auch ihr Kind vermisst sie. Ihre ganze Familie mache sich Sorgen, erzählt die junge Frau. &bdquo;Aber jeder weiß doch, ich bin ein Straßenhund.“ Sie hat sich vorgenommen, zur Sprechstunde für Suchttherapie zu gehen. Gleich morgen, sagt sie. .responsive23-kbU2WbmP08Dh1pBO-ttc-linechart-zahl-der-wohnungslosen-in-owl { width: 100%; padding-top: 100%; } @media (max-width: 600px) { .responsive23-kbU2WbmP08Dh1pBO-ttc-linechart-zahl-der-wohnungslosen-in-owl { padding-top: 100%; } } @media (max-width: 360px) { .responsive23-kbU2WbmP08Dh1pBO-ttc-linechart-zahl-der-wohnungslosen-in-owl { padding-top: 142.86%; } } Der Weg in ein geregeltes Leben ist steinig Auch wenn die meisten Obdachlosen gerne von der Straße wegkämen, ist der Weg zurück in ein geregeltes Leben steinig. Ohne Arbeit und ohne Meldeadresse ist es schwer, eine Wohnung zu finden. Kommen Schulden oder Süchte dazu, wird die Sache nahezu unmöglich. Dabei hat sich die Bundesregierung eigentlich vorgenommen, bis 2030 die Obdach- und Wohnungslosigkeit in Deutschland zu überwinden. Bundesbauministerin Klara Geywitz (SPD) hat dazu gemeinsam mit den Ländern, Kommunen und Verbänden einen Nationalen Aktionsplan erstellt, der sich neben der Akutversorgung auch mit der Prävention befasst und vergangenen Frühling vorgestellt wurde. Laut Schätzungen der ArbeitsgemeinschaftBAG W hat die Obdach- und Wohnungslosigkeit zuletzt aber sogar zugenommen. Um das Problem in den Griff zu bekommen, bringt Geschäftsführerin Sabine Bösing einen besseren Mieterschutz ins Spiel. Die BAG W denkt dabei an eine verstärkte Mietpreisbremse, an nachträgliche Schonfristzahlungen zur Verhinderung fristloser Kündigungen oder ein Vorkaufsrecht für Kommunen. Prävention sei wesentlich, sagt Bösing. &bdquo;Deshalb fordern wir flächendeckende Fachstellen, die sich bereits bei drohender Kündigung einschalten können.“ Sie pocht zudem aufmehr sozialen Wohnbau: &bdquo;Auch in der nächsten Koalition werden wir ohne den Bau von bezahlbarem Wohnraum nicht weiterkommen.“ Hoffnungen liegen auch auf einem in Deutschland noch nicht sehr verbreiteten Ansatz, den aber immer mehr Städte ausprobieren: &bdquo;Housing First“. Die Idee – erst kommt die Wohnung, dann alles Weitere. Arbeitslosigkeit, Sucht oder Schulden können danach in Angriff genommen werden. Heidi hat Hilfe angenommen und nie aufgegeben Und hier setzt auch Heidis Geschichte wieder an, oder eher: Es beginnt eine neue. Die 49-Jährige hat einen Platz in einem Housing-First-Projekt bekommen. Die Wohnung ist im Grünen, in die Innenstadt wollte sie nicht mehr: &bdquo;Da habe ich zu viel erlebt.“ Anfang des Jahres kann sie mit ihrem jüngsten Kind einziehen, die anderen folgen später. Als Heidi im Café über ihre neue Wohnung redet, zückt sie ihr Handy. Wo alles stehen wird, weiß sie schon genau. &bdquo;Da kommt noch eine Couch hin“, sagt sie und zeigt mit ihrem Finger auf das, was bald ihr Wohnzimmer sein wird. Das erste seit mehr als vier Jahren. Dass Heidi nun eine Wohnung hat, liegt auch daran, dass sie schließlich Hilfe angenommen und nie aufgegeben hat. &bdquo;Man denkt nicht daran, den Mut zu verlieren. Man macht einfach weiter“, sagt sie. Ihre Kinder habe sie ja immer weiter gesehen. Obwohl sie noch nicht offiziell in der Wohnung lebt, durfte sie Heiligabend bereits mit ihnen verbringen. Am meisten freut sich Heidi auf ihre Kinder Sie hat sich vorgenommen, wieder einen Job zu suchen. Und auch, wenn ihr Weg nun etwas klarer erscheint, wirbt sie um Verständnis für Menschen, die ihr Schicksal teilen und noch immer auf der Straße sind. &bdquo;Manchmal ist es nicht möglich für Obdachlose, die gesellschaftlichen Normen einzuhalten“, sagt sie und meint damit Dinge wie Behördengänge. &bdquo;Viele sagen, die haben doch Zeit. Aber man hat schon viel damit zu tun, zu überleben.“ Jetzt geht es aber nicht mehr darum, jetzt geht es um den Weg zurück in die eigenen vier Wände. Worauf sie sich am meisten freut? Auf die Kinder, auf die Ruhe, das eigene Zuhause. Und darauf, endlich mal die Tür zumachen zu können.

Meistgelesen