93 Wochen nach Urteil

Gericht legt 3.000 Seiten lange Urteilsbegründung im NSU-Prozess vor

Der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe muss das Urteil prüfen. Sollten irgendwo grobe Schnitzer vorliegen, müsste der ganze Fall im schlimmsten Fall neu beginnen.

Beate Zschäpe kurz vor der Urteilsbegründung im Juli 2018. | © Reuters

21.04.2020 | 21.04.2020, 13:31

München (AFP). Für die verurteilte Rechtsterroristin Beate Zschäpe beginnt nun die für die Dauer ihres Gefängnisaufenthalts entscheidende Phase. Fast 93 Wochen nach Zschäpes Verurteilung im NSU-Prozess zu lebenslanger Haft hat das Oberlandesgericht München das schriftliche Urteil gegen die 45-Jährige und ihre vier Mitangeklagten abgegeben.

In Kürze bekommen Bundesanwaltschaft, Verteidiger und Nebenkläger die 3.025 Seiten - sie haben dann vier Wochen Zeit, um ihre Revision schriftlich zu begründen und das Urteil womöglich ins Wanken zu bringen.

Der Vorsitzende Richter Manfred Götzl und die weiteren Richter des Prozesses um den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) schöpften ihre zeitlichen Möglichkeiten zwischen der mündlichen Urteilsverkündung am 11. Juli 2018 und dem Ende der Abgabefrist für das schriftliche Urteil fast vollständig aus. Am Mittwoch hätte das Urteil spätestens zu den Akten kommen müssen, nun liegt es seit Dienstag dort.

438 Verhandlungstage im NSU-Prozess

Dass Götzl und sein Team so viel Zeit hatten, liegt am epischen Ausmaß des NSU-Prozesses mit seinen 438 Verhandlungstagen. Die Strafprozessordnung bemisst nach der Prozessdauer die Zeit für die Urteilsbegründung. Allein der Umfang von mehr als 3.000 Seiten zeigt, dass der auch im NSU-Prozess bis zur Penibilität präzise arbeitende Götzl alle Details des Urteils umfassend begründet haben wird.

Götzl verurteilte die mittlerweile in Chemnitz im Frauengefängnis sitzende Zschäpe als Mittäterin der Morde an neun Migranten und einer Polizistin, obwohl sie laut der Beweisaufnahme an keinem einzigen Tatort war. Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, die 2011 nach einem Überfall mutmaßlich Suizid begingen, sollen alle Taten verübt haben.

Verteidiger: Verurteilung wegen Mittäterschaft nicht haltbar

Schon die Anklage Zschäpes durch die Bundesanwaltschaft als Mittäterin, ohne dass sie je an einem Tatort war, galt als kühn. Dass das Urteil diese Annahme bestätigte, wird unter Juristen bis heute kontrovers diskutiert. Zschäpes Verteidiger Mathias Grasel sagte am Urteilstag, die Verurteilung wegen Mittäterschaft sei "juristisch nicht haltbar".

Grasel sagt auch heute, die Frage der Mittäterschaft werde die zentrale seiner Revision sein. Darum werde es "vor allem" gehen, auch einige andere Punkte der Urteilsbegründung wolle er sich sehr genau ansehen. Einen tieferen Einblick, wo er mögliche Schwachstellen des Urteils sieht, will er aber nicht geben.

BGH muss Urteil prüfen

Der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe muss das Urteil prüfen. Dabei geht es aber nicht um inhaltliche Fragen, sondern um formale Fehler. Sollten irgendwo grobe Schnitzer vorliegen, müsste der ganze Fall im schlimmsten Fall neu beginnen. Wie lange der BGH für seine Prüfung braucht, ist nicht absehbar.

Sollte der BGH die Verurteilung Zschäpes bestätigen, wird diese wegen der vom Gericht festgestellten besonderen Schwere der Schuld noch viele Jahre im Gefängnis bleiben. Sollte der BGH das Urteil aber kippen, könnte sie absehbar auf eine Haftentlassung setzen.

Bereits seit 2018 sind der ehemalige NPD-Funktionär Ralf Wohlleben und der Neonazi André E. frei. Wohlleben verbrachte mehr als zwei Drittel seiner laut Urteil zehnjährigen Haftstrafe in Untersuchungshaft. Bei E. hingegen verhängte das Gericht nur zweieinhalb Jahre Haft, obwohl die Bundesanwaltschaft zwölf Jahre gefordert hatte. Vor allem bei E. hoffen viele Hinterbliebene, dass seine Verurteilung gekippt und der Neonazi doch noch härter bestraft wird. Schließlich geht es in der Revision auch darum, ob der als NSU-Helfer zu drei Jahren Haft verurteilte Holger G. ins Gefängnis muss.

Nur bei einem ist der Fall bald abgeschlossen. Carsten S., der dem NSU die Waffe für die Morde an den neun Migranten übergeben hatte, akzeptierte seine Verurteilung zu drei Jahren Jugendstrafe. Einen Großteil der Strafe saß er ab, vermutlich kommt er nach dem Vorliegen der schriftlichen Urteilsgründe bald frei.

INFORMATION


Die NSU-Morde

Anfang der 90er Jahre
Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe lernen sich in einem Jugendklub in Jena-Winzerla kennen. Das Trio zeigt hier bald rechtsextreme Haltungen und radikalisiert sich fortschreitend - mit immer enger werdenden Kontakten in Neonazigruppen wie den "Thüringer Heimatschutz".

26. Januar 1998
Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe tauchen gemeinsam unter, nachdem die Polizei in einer von Zschäpe angemieteten Garage Rohrbomben und Sprengstoff fand.

18. Dezember 1998

Böhnhardt und Mundlos erbeuten bei ihrem ersten bewaffneten Überfall 15.000 Euro. In den folgenden Jahren verüben sie insgesamt 15 bewaffnete Raubüberfälle und erbeuten etwa 600.000 Euro für ihr Leben im Untergrund.

1. Juli 2000
Das Trio wechselt den Standort und zieht von Chemnitz nach Zwickau. Dort bewohnen sie in den folgenden Jahren drei Wohnungen, ohne entdeckt zu werden.

9. September 2000
In Nürnberg wird der Blumenhändler Enver Simsek erschossen, das erste Opfer der NSU-Mordserie. Bis zum Jahr 2007 folgen neun weitere Morde, die dem NSU zugerechnet werden. Von den zehn Mordanschlägen gelten neun Kleinunternehmern mit Migrationshintergrund, der letzte NSU-Mord ist der an der Polizistin Michèle Kiesewetter im April 2007. Nie kommt ein Verdacht gegen das im Untergrund lebende Trio auf.

19. Januar 2001
In Köln wird bei einer Sprengstoffexplosion in einem Lebensmittelgeschäft eine junge Deutschiranerin schwer verletzt, Böhnhardt oder Mundlos versteckten eine Christstollendose voller Schwarzpulver in dem Laden.

9. Juni 2004
Ein Nagelbombenanschlag erschüttert die von vielen türkischen Geschäften geprägte Kölner Keupstraße. Es gibt 22 Verletzte, darunter mehrere lebensgefährlich Verletzte. Erst im NSU-Prozess zeigt sich, dass der Anschlag weit größeren Schaden hätte anrichten können. Die Bundesanwaltschaft wertet den Anschlag als versuchten Mord in 32 Fällen und als gefährliche Körperverletzung in 23 Fällen - mehr als ursprünglich angeklagt.

4. November 2011
Nach einem Überfall auf eine Bank in Eisenach fallen Böhnhardt und Mundlos einem Zeugen auf, der die Polizei alarmiert. Als diese sich einem Wohnmobil mit den beiden Männern nähert, begehen sie mutmaßlich Suizid. Am selben Tag kommt es zu einem schweren Brand im letzten Unterschlupf des Trios in Zwickau, der von Zschäpe gelegt wurde, um Beweismittel zu vernichten. Zschäpe verschickt mehrere Bekenner-DVDs, durch die der NSU erstmals bekannt wird. Nach mehrtägiger Flucht stellt sie sich am 8. November.

6. Mai 2013

Vor dem Oberlandesgericht (OLG) München beginnt der NSU-Prozess gegen Zschäpe und vier mutmaßliche Helfer des Trios. Es werden um die 800 Zeugen gehört, 25 technische und 26 medizinische Gutachter sagen aus. Grundsätzliche Zweifel an der Anklage und den vorgeworfenen Taten kommen nicht auf. Zschäpe gibt aber Mundlos und Böhnhardt die alleinige Verantwortung für die Taten und bestreitet, Mitglied des NSU gewesen zu sein.

11. Juli 2018
Das OLG München verurteilt Zschäpe als Mittäterin zu lebenslanger Haft und stellt die besondere schwere der Schuld fest, die vier als NSU-Helfer Mitangeklagten erhalten Haftstrafen zwischen zweieinhalb und zehn Jahren.

21. April 2020
Der zuständige 6. Strafsenat gibt die schriftliche Urteilsbegründung zu den Akten. In Kürze bekommen alle Prozessbeteiligten ein Exemplar, die Revision einlegten. Sie haben dann vier Wochen Zeit, diese zu begründen. Der Bundesgerichtshof entscheidet am Ende, ob das Verfahren ganz oder in Teilen neu verhandelt werden muss oder ob das Urteil rechtskräftig wird.