Meinung

Kandidatenschwäche macht die Wahl zur Entscheidung um Inhalte

Alle Spitzenkandidaten der kommenden Bundestagswahl weisen Defizite auf. Auf das Land wartet ein Richtungswahlkampf, meint unser Autor.

Olaf Scholz (SPD) verfolgt eine Rede von Friedrich Merz (CDU) im Bundestag: Beide Kanzlerkandidaten überzeugen nicht. | © picture alliance/dpa

Thomas Seim
25.11.2024 | 25.11.2024, 18:19

Vor Deutschland liegt eine historische Wahl. Das wird die Bundestagswahl am 23. Februar des kommenden Jahres aus verschiedenen und schwerwiegenden Gründen in jedem Fall: Zunächst ist das Experiment einer Lager übergreifenden Drei-Parteien-Koalition gescheitert; Deutschland kehrt damit erstmals seit Jahrzehnten wieder der Konsens-Demokratie den Rücken und steuert auf einen intensiven Verteilungswahlkampf in einer der größten Wirtschaftskrisen der vergangenen Jahrzehnte zu; drittens befindet sich Europa insgesamt und Deutschland im Herzen des alten Kontinents insbesondere durch den Ukraine-Krieg in einer extrem bedrohlichen Sicherheitslage.In dieser wird es eine sehr große Herausforderung, das Land aus einer Beteiligung an einer kriegerischen Auseinandersetzung herauszuhalten, ohne es der Willkür eines Autokraten, eines Diktators Wladimir Putin schutzlos auszuliefern.

Vor allem aber unterscheidet diesen nun beginnenden Wahlkampf von anderen, dass er nicht als Personenwahlkampf zu gewinnen sein wird. Dafür gibt es sehr viele, sehr unterschiedliche Gründe. Da sind zunächst die Kanzlerkandidaten selbst. Ein Amtsinhaber Olaf Scholz, der seine Koalition nicht erfolgreich zu Ende geführt hat, zugleich aber als Moderator dieses Ampel-Bündnisses kaum ein Profil herausbilden konnte oder wollte, von dem er oder die SPD profitierten. Schlimmer noch: Exakt dieses Defizit führte dazu, dass die SPD sich wieder einmal von ihrer großen alten Tradition parteiinterner Querelen überwältigen ließ und die Wiederwahl des Amtsinhabers selbst zur Disposition stellte.

Als Gegenüber etablierte sich mit Friedrich Merz ein Herausforderer, der bislang kein einziges politisches Amt erfolgreich zu einem Abschluss gebracht hat, sondern als Oppositionschef eines Bundeskanzlers Schröder durch eine CDU-Chefin Angela Merkel ausgemustert wurde, die noch in dieser Woche vermeidet, ihm die Kanzlerfähigkeit per Interview persönlich zu bescheinigen. Und selbst für sein aktuelles Amt des Parteichefs brauchte er drei Anläufe.

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Alle Spitzenkandidaten weisen Defizite auf

Auch alle übrigen tatsächlichen oder vermeintlichen Kanzlerkandidaten weisen erhebliche Profildefizite auf. Das gilt für den Grünen Robert Habeck mit seinen seltsam antiquierten „Küchentisch-Gesprächen“ ebenso wie für den weder kanzlerwilligen noch -fähigen und vor allem gescheiterten Ex-Finanzminister Christian Lindner mit seiner Knapp-Fünf-Prozent-Partei FDP oder gar die Rechtsextremistin Alice Weidel von der AfD.

Wenn es also keinen Personenwahlkampf geben kann wegen der Schwäche der Kandidaten, wird es um einen Inhalts- und Richtungswahlkampf gehen müssen. Einige Linien dafür hat der nun doch noch von seiner Partei nominierte Olaf Scholz bei der Verkündung seiner Kandidatur angedeutet: Selbstverständlich tauchten dort Fragen der sozialen Gerechtigkeit wie Mindestlohn und Rente als Identitätsthemen der Sozialdemokratie auf. Das Leben muss bezahlbar bleiben – eine der Botschaften für die Sozialdemokratie. Auch eine aktive Industriepolitik für ein Land, das seinen Aufstieg im Wesentlichen dieser Industrie verdankt, ist für die SPD selbstverständlich und in der nicht immer glücklichen Wirtschaftspolitik der vergangenen drei Jahre ein Unterscheidungsmerkmal auch in Richtung Grüne.

Die Führungskrise der Republik wird andauern

Wenig deutet darauf, dass die Führungskrise der Republik nach der Wahl im Februar 2025 überwunden sein wird. Auch im neuen Bundestag mit starken Fraktionen an den Rändern werden die Mehrheiten nicht leicht zu finden sein. Andererseits können bereits gut 25 Prozent fürs Kanzleramt reichen, nicht erst 35 Prozent wie früher. So oder so aber muss man hoffen, dass sich für die nächste Legislaturperiode belastbare Mehrheiten für eine stabile Koalition finden lassen.

Deshalb spricht vieles gegen den erneuten Versuch einer Drei-Parteien-Regierung. Die Herausforderung für die Volksparteien Union und SPD besteht darin, gerade in Zeiten ökonomischer und politischer Weltkrisen ihre Fähigkeit zu bewahren für ein Zweier-Bündnis zur Führung der Republik. Auch das wird angesichts der programmatischen Festlegungen auf beiden Seiten nicht leicht werden. Sehr viel hängt davon ab, wie stark sich die besonnenen, am Gemeinwohl ausgerichteten Köpfe beider Lager durchsetzen und die Grundlinien der Politik nach der Wahlentscheidung am demokratischen Kompromiss und nicht an Hitzköpfen ausrichten werden.

Entscheidend dafür ist die Frage, wie sehr sich die Wahlbevölkerung insgesamt – und dabei vor allem die Friedensbewegung – für die Krisenbewältigung des russischen Krieges in der Ukraine und ein deeskalierendes Krisenmanagement statt eskalierender Raketen-Lieferungen mobilisieren lässt. Sicherheit im Wandel – das muss nun das Angebot der SPD sein. Dann erst folgt der Kanzler als Kandidat.