
Die politische Landschaft in Deutschland scheint immer unübersichtlicher zu werden. Ein Grund dafür ist, dass die Wirklichkeit komplexer, differenzierter und auch widersprüchlicher geworden ist: Der Aufstieg der AfD zur zweitstärksten Kraft unterstreicht diese Entwicklung. Die Einstufung der Partei als rechtsextremistischer Verdachtsfall hat ihre Wähler nicht abgeschreckt. Im Gegenteil. Die AfD triumphiert. Trotz aller Skandale.
Woran liegt das? Das Ergebnis der Europawahl zeigt, dass die traditionelle Einteilung der Parteien in Links und Rechts an Bedeutung verliert. Stattdessen dominieren bestimmte Themen. Dazu gehören Migration, nationale Souveränität und Kritik an der EU.
Regionale Identitäten bestimmen den Wahlausgang
Auch regionale Identitäten bestimmen den Wahlausgang. Es macht einen Unterschied, wie Menschen sozialisiert sind. Das Wahlergebnis der AfD und den bemerkenswerten Erfolg der BSW einfach als Protest gegen das Establishment abzutun, wäre falsch. Offenbar sind beide Parteien nicht trotz ihres Russland-Kurses, sondern gerade deswegen so erfolgreich in Ostdeutschland.
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Dennoch verstehen viele Wähler dieser beiden Parteien ihre Stimme als Ausdruck des Protests gegen die etablierten Parteien. Sie haben ihrer Unzufriedenheit entschieden Ausdruck verliehen. Affären und Skandale werden von den Anhängern der AfD als weniger wichtig wahrgenommen. Vielleicht sogar als übertrieben oder als gezielte Kampagnen gegen die Partei.
Verwirrung im politischen Spektrum
Spätestens das Ergebnis der Europawahl wirft die Frage auf, inwieweit der Rechts-Links-Diskurs in Deutschland überhaupt noch eine Rolle spielt. Lange Zeit bildete dieses Prinzip das zentrale Gerüst des politischen Spektrums. Die politischen Parteien ordneten sich hier eindeutig ein. Es reicht zurück bis in die Zeit der Französischen Revolution: Links stand für Fortschritt, Reformen und Sozialismus. Rechts für Tradition, Besitzstandswahrung und Konservatismus.
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Inzwischen herrscht zunehmend Verwirrung: linke Klimaaktivisten, rechte Corona-Leugner, linker „Gender-Gaga“. Sahra Wagenknecht wird vorgeworfen, am rechten Rand auf Wählerfang zu gehen. Das einst klare Bild der politischen Fronten scheint mehr und mehr zu verschwimmen. Die Einordnung der eigenen politischen Position fällt vielen Wählern schwerer.
Wünschenswert wäre ein starker Kanzler
Ein Grund dafür ist sicherlich, dass dieses traditionelle Raster den heutigen politischen, aber auch gesellschaftlichen Dynamiken immer weniger gerecht wird. Um Deutschland in eine sichere, demokratische Zukunft zu führen, bedarf es einer vielschichtigen Strategie. Ein guter Anfang wäre eine offene und respektvolle Debattenkultur im Land. Ohne sie ist ein Austausch zwischen unterschiedlichen politischen Lagern unmöglich. Wünschenswert wäre ein starker Kanzler, der den Diskurs führt. Da muss mehr kommen, viel mehr.