Meinung

Franziskus fordert Verhandlungen beim Ukrainekrieg: Warum er recht hat

Seit zwei Jahren führt Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Der Papst ruft zu Verhandlungen auf. Warum das richtig ist, kommentiert unser Autor.

Friedensverhandlungen statt Krieg, sagt Franziskus. Unser Autor kommentiert, warum der Papst recht hat. | © Evandro Inetti

Julius Müller-Meiningen
11.03.2024 | 11.03.2024, 17:00

Papst Franziskus hat recht. Stärke ist nicht nur die Kraft in der Überlegenheit, ein oft brutales Muskelspiel auf dem Rücken der Schwächeren. Stärke bedeutet auch, Dinge zu sagen, die niemand hören will. In einem am Wochenende ausgestrahlten, aber bereits Anfang Februar aufgezeichneten Interview mit dem Schweizer Fernsehen hat Franziskus mit folgendem, auf die Ukraine bezogenen Satz einen Skandal ausgelöst: „Der Stärkere ist derjenige, der die Situation erkennt, so wie sie ist, der an die Menschen denkt und den Mut zur weißen Fahne hat. Und verhandelt. Heute kann man verhandeln.“

Das Bild von der weißen Fahne war der Auslöser der Kritik. Denn die weiße Fahne ist die Metapher der Kapitulation. Wer Franziskus so verstehen wollte, konnte interpretieren, dass der Papst die Kapitulation der Ukraine gegenüber Russland forderte.

Doch die empörten Reflexe zeugen eher davon, wie sehr nicht nur die Ukraine, sondern auch westliche Politiker von einer Kriegsoptik und Kriegsrhetorik gefangen sind, ohne sich dessen bewusst zu sein. Der Papst ist kein Sicherheitspolitiker, kein Stratege. Sein Anliegen war bei jener Äußerung menschlich. Wer im Krieg der Menschlichkeit das Wort redet, der wird entweder nicht gehört oder lächerlich gemacht.

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30.000 ukrainische und 200.000 russische Soldaten gestorben

Kaum jemand will derzeit im Westen davon hören, dass die Ukraine den Krieg gegen Russland beendet und sich zu Verhandlungen bereit erklärt. In der westlichen Kriegsrhetorik (ja, die gibt es auch) darf die Vokabel vom russischen Angriffskrieg nicht fehlen. Das Wort trifft technisch zu, denn Russland hat den Krieg in der Ukraine begonnen, damit gegen Völkerrecht verstoßen und alle früheren Bemühungen um Frieden in der Region konterkariert. In der Realität gibt es allerdings längst keinen Angriffskrieg mehr, sondern einen zermürbenden Stellungskrieg in der Ostukraine.

Nicht nur ukrainische Soldaten sterben zu Tausenden. Die ukrainische Armee greift, auch wenn sie dabei das eigene Territorium verteidigt, selbst an und verursacht Tausende Tote auf russischer Seite. Auf diesen Toten liegt der Fokus des Papstes.

Offiziellen Angaben zufolge sollen in der Ukraine über 30.000 Soldaten gestorben sein, auf russischer Seite sollen es mehr als 200.000 Soldaten sein, dazu kommen knapp 10.000 zivile Opfer in der Ukraine. Auch Soldaten sind Menschen, tausende Familien sind zerstört. Papst Franziskus hat dieses unermessliche, vor allem vom russischen Präsidenten Wladimir Putin zu verantwortende, menschengemachte Leid im Auge, wenn er davon spricht, dass es ein Zeichen von Stärke wäre, Verhandlungen aufzunehmen. Wenn Putin nicht verhandeln will, sollte es die Ukraine versuchen.

In der Vergangenheit ist der Papst mit Kommentaren zum Ukrainekrieg aufgefallen

Natürlich hat Franziskus, auch wenn er von der „weißen Fahne“ spricht, keine Kapitulation der Ukraine vor Augen. Er fügte hinzu, mithilfe internationaler Mächte seien Verhandlungen möglich. Es geht dem Papst um das Ende des sinnlosen Massensterbens. Franziskus spricht als Priester, als Seelsorger und nicht als Machtpolitiker. Seine Stimme sollte deshalb nicht reflexhaft lächerlich gemacht, sondern ernst genommen werden.

Schon in der Vergangenheit verursachte Franziskus im Fall Ukraine Kopfschütteln, obwohl er nur Probleme ansprach, die andere nicht sehen wollten. Das galt etwa im Jahr 2022 für den Satz vom „Bellen der Nato vor den Toren Russlands“. Mit jener auch damals zugespitzten Formulierung wies Franziskus darauf hin, dass die Eskalation nicht nur im neoimperialistischen Wahnsinn Putins, sondern auch in einem Expansionsstreben des Westens angelegt war.

Nun hat Franziskus die Frage nach Verhandlungen aufgeworfen, um noch mehr Leid zu verhindern. Natürlich wären Verhandlungen mit Putin nach dessen Torpedierung der Minsker Abkommen von 2015 ein enormes Wagnis. Doch was ist die Alternative? Die Fortsetzung des jetzigen Krieges mit mehr Engagement des Westens, entsprechenden Risiken zur Eskalation und immer mehr Opfern. Es ist nicht ausgeschlossen, dass man eines Tages auf die Papst-Worte dieser Tage zurückblickt, mit dem Gedanken: Hätten wir damals doch nur auf ihn gehört!