Kommentar

Eine neue, andere SPD

Nach dem SPD-Mitgliedervotum für Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken beginnt die Arbeit bei den Sozialdemokraten erst, kommentiert unser Chefredakteur.

Gewinner - Verlierer: Norbert Walter-Borjans (l.) und Saskia Esken (2.v.l., beide SPD) stehen nach der Bekanntgabe des Ergebnisses im Willy-Brandt-Haus, während das unterlegene Kandidaten-Duo Olaf Scholz (SPD, r.),  und Klara Geywitz das Podium verlässt. | © picture alliance/dpa

Thomas Seim
30.11.2019 | 01.12.2019, 15:05

Diesen NW+-Artikel haben wir bewusst für alle Leserinnen und Leser zugänglich gemacht. Wir wünschen uns eine intensive Debatte darüber.

Hinter der SPD liegen harte Wochen der Selbstfindung für eine neue Führung. Jetzt hat sie diese neue Führung – und nun liegen harte Wochen des Zusammenraufens vor ihr. Erst daran wird sich entscheiden, wie groß die neue Kraft sein kann, die die Sozialdemokraten mobilisieren, und wie stark deren Anspruch zur Gestaltung des Landes bleiben oder wieder werden kann.

Mit der Entscheidung für Norbert Walter-Borjans, dem ehemaligen NRW-Finanzminister, und Saskia Esken als neue Parteichefs hat die Mitgliedschaft der Sozialdemokraten den regierenden SPD-Funktionären das Vertrauen entzogen. Auch wenn es knapp ausgegangen ist: Die Mehrheit der SPD-Mitglieder steht der großen Koalition distanziert kritisch gegenüber. Sie strebt eher das Ende dieses Regierungsbündnisses an – oder wenigstens die Garantie, dass es kein neues mit der Union gibt.

Für diese neue, andere SPD stehen Walter-Borjans wie Esken. Ob dies allerdings auch tatsächlich zum Ende der amtierenden Koalition führt, ist nicht sicher. Zwar gilt Esken als linke Hardlinerin in der SPD, die eher dafür steht. Norbert Walter-Borjans allerdings bezeichnet sich selbst als gern „konservativen Linken" – eine Kombination, die ihn vor unüberlegten politischen Schnellschüssen schützen kann. Außerdem entstammt der neue starke Mann der SPD dem mitgliederstärksten SPD-Landesverband NRW und war Berater und – wenn man das so sagen darf – Zögling des früheren Ministerpräsidenten und Bundespräsidenten Johannes Rau. Ganz abgesehen davon, dass die Mehrheiten in NRW sich nicht wesentlich von denen bundesweit unterscheiden werden.

Der neue Vorsitzende aus der SPD-Urzelle NRW

Vielleicht liegt darin auch eine Chance des Neuanfangs für die Sozialdemokraten. Der neue Vorsitzende aus NRW – eine Art Urzelle der deutschen Sozialdemokratie – ist in der Bundespolitik und für die große Koalition unverbraucht. Er hat schon einmal bei dem Versuch des damaligen CDU-Finanzministers Wolfgang Schäuble, ein Abkommen zur Steuerhinterziehung mit der Schweiz zu schließen, erfolgreich für eine Korrektur der Politik in seinem Sinne und dem der SPD und gegen die Steuerhinterziehung erreicht. Sein Amtsantritt jedenfalls könnte der SPD auch die Chance bieten, sich innerhalb der Koalition mit der Union neu zu profilieren.

Ob sie dies allerdings mit dem noch amtierenden Vize-Kanzler und Finanzminister Olaf Scholz tun kann, scheint mehr als zweifelhaft. Scholz hat in den vergangenen Tagen der Stichwahl und davor zwar zu erkennen gegeben, dass er sozialdemokratische Politik für alle Flügel definieren kann. Die Mehrheit der Parteimitglieder aber traute dem Hamburger, der einst Gerechtigkeit ohne das SPD-Adjektiv „soziale" definierte, die Führung der Partei nicht mehr zu. Dass er mit dieser Last Vize-Kanzler und Finanzminister bleiben kann, erscheint nach diesem Votum fraglich. Andererseits hat Walter-Borjans eigene Ambitionen auf diesen Job stets eher dementiert.

Konzept für Sicherheit im Wandel gefragt

Für die SPD insgesamt ist das Mitgliedervotum über den Parteivorsitz sicher bedeutsam. Die eigentliche Arbeit allerdings beginnt erst jetzt. Sie macht neben der Kunst der Integration vor allem die inhaltliche Neuausrichtung eines sozialdemokratischen Gestaltungsanspruchs erforderlich. Dies muss ein Führungsanspruch der SPD für das kommende Jahrzehnt sein, der die Herausforderungen des Klimawandels und die Antworten darauf verbindet mit denen des gesellschaftlichen Zusammenhalts und der sozialen Gerechtigkeit in Deutschland. Dazu gehören die Globalisierung, aber etwa auch die Frage der Bezahlbarkeit des Lebens oder die Gleichstellung von Männern und Frauen – im Kern braucht sie ein Konzept für Sicherheit im Wandel.

Dazu muss die SPD Antworten finden, die sie zusammenhalten und ihren Führungsanspruch dokumentieren. Mit Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken an der Spitze. Die unsägliche Pro- und Kontra-Diskussion über die Große Koalition ist dazu eher nicht hilfreich.

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