
Frankfurt. Er sei eher Sammler denn Erzähler hat Klaus-Jürgen Liedtke im Mai in einem Gespräch mit dieser Zeitung betont. Damals ging es um sein Buch „Nachkrieg und die Trümmer von Ostpreußen".
Zehn Jahre hat der in Kreuzberg lebende Liedtke an diesem ungewöhnlichen Werk gearbeitet gehabt, das er aus vielen Stimmen, Erinnerungsfetzen, Dokumenten, Protokollen und auch Gedichten collagiert hat.
Fürs Schreiben "nur" sieben Jahre gebraucht
„Dieses Mal war ich schneller, ich habe nur sieben Jahre gebraucht", sagt der 67-Jährige beim Treffen am Stand des Galiani-Verlags auf der Frankfurter Buchmesse mit einem Augenzwinkern.
„Die Ostsee" heißt sein neues Werk. Es ist ein echtes Schwergewicht geworden. Zweieinhalb Kilo wiegt das großformatige Buch. Rund 660 Seiten umfasst es und versammelt 128 Texte aus 2.000 Jahren von Tacitus, aus dessen Feder der älteste Text stammt, bis hin zum schwedischen Dichter und Literaturnobelpreisträger Tomas Tranströmer.
Texte, die sich mit der Ostsee befassen
Texte, die sich allesamt mit dem Kulturraum Ostsee befassen „und die allesamt aus den an sie angrenzenden Ländern stammen", wie Liedtke betont, dem dieser Ansatz wichtig ist.
Erzählungen, Gedichte und Romanauszüge, Briefe und Tagebucheinträge über Städte und Inseln, Reisen, Handel, Kriege, Liebe und Leben an und auf dem Meer versammelt der Herausgeber – die Weltliteratur kommt dabei ebenso zu Wort wie eher unbekannte Literaten.
"Literarische Qualität und historische Aussagekraft waren mir bei der Auswahl der Texte wichtig", betont Liedtke, der in Bielefeld zur Schule gegangen ist und 1970 dort sein Abi gebaut hat. Geboren aber wurde er in Enge, Schleswig-Holstein, als Sohn heimatvertriebener Ostpreußen.
Geschaffen hat er ein vielstimmiges literarisches Porträt des Ostseeraumes, dem er als Student der Skandinavistik mit Stationen in Kiel, Uppsala und Turku früh kennen- und schätzen lernte – „und der mich bis heute fasziniert".
Ein Versuch, die Region neu zu fassen
Er selbst umschreibt sein Herangehen an sein Buch im Gespräch so: „Ostsee-Natur und Ostsee-Zivilisation lesbar zu machen, ist ein Ziel dieser übernationalen Textsammlung. Ich präsentiere den Versuch, die Ostseeregion neu zu erfassen."
Neu zu erfassen, das meine die Region eben nicht durch die Brille eines Anrainer-Landes zu sehen, sondern als gemeinsamen Kulturraum, der die Ostsee immer gewesen sei. Liedtke, der 1993 den Ostseerat der Autoren mitbegründet hat, betont: „Allein der Kalte Krieg hat uns das vergessen lassen, hat die uralten Verbindungslinien zwischen den Ländern, Städten, Menschen zerschnitten, so dass wir kaum noch etwas voneinander wussten."
Er füge die Fäden mit seiner Sammlung nun wieder zusammen, zeige Bezüge und Beziehungen auf, stimme aber dennoch dem Dichter Tomas Tranströmer zu, dass es eher richtig sei, von „Ostseen" zu sprechen als der Ostsee, „weil dieser Raum nach dem Zweiten Weltkrieg eben so zerrissen wurde." Er spreche daher auch eher von Ostsee-Welten.
Ein vielschichtiges Beziehungsgeflecht
Auf eine chronologische Ordnung hat der Autor verzichtet. Liedtke, der einst die 14-sprachige Baltic Sea Library begründet hat und bis heute verantwortet, hat die ausgewählten Texte stattdessen in sieben Großkapiteln als ein vielschichtiges Beziehungsgeflecht arrangiert.
Da ist er wieder, der collagierende Liedtke. Die Rubriken tragen die Titel: „Ankunft und Aufbruch", „Wahre und erfundene Reisen", „Historien und Schlachten", „Hart am Wasser", „Städte am Meer", „Provinzen" sowie „Inseln und Peripherien".
Der Leser wird zum Erkunder
Wer hineinliest in die Texte von Fjodor Dostojewski, Selma Lagerlöf, Walter Benjamin, Czeslaw Milos, Thomas Mann, Josef Brodsky, Günter Grass, Peter Weiss und den vielen anderen Autoren verstrickt sich schnell in ein beziehungsreiches Textgewebe und wird so zum Ostseeraum-Erkunder, landet mal hier mal dort an, wie einst die schnell und überfallartig agierenden Wikinger, und nimmt ein immer neues Stück Ostseeraum in sich mit.
Was für ein großes Werk. Ein Mammutbuch für Entdecker eben.
INFORMATION
Zur Person
Klaus-Jürgen Liedtke, geboren 1950 in Enge/Südtondern (Schleswig), Abitur in Bielefeld, studierte Skandinavistik, Germanistik und Amerikanistik.
Er hat zahlreiche Bücher vor allem aus dem Schwedischen übersetzt und machte sich auch als Lyriker einen Namen.
2005 wurde er mit dem Paul-Celan-Preis und 2008 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.
2008 erschien von ihm „Die versunkene Welt. Ein ostpreußisches Dorf in Erzählungen der Leute", im Verlag „Die Andere Bibliothek" Bd. 286 und ebenfalls dort erschien im Jahr 2018 „Nachkrieg und die Trümmer von Ostpreußen".