Tschaikowskys Oper "Eugen Onegin" am Bielefelder Theater

Von Fluchten und Verzweiflung

Tatjana (Sarah Kuffner) hat Eugen Onegin (Levent Bakirci) in einem Brief ihre Liebe gestanden. Doch der weißt sie kühl zurück. | © FOTO: KAI-UWE SCHULTE–BUNERT

Anke Groenewold
12.03.2013 | 09.01.2023, 16:33

Bielefeld. Kein Wunder, dass sich Tatjana am liebsten in ihre Bücher flüchtet. Ihr Leben auf dem Gutshof ist so dröge, dass bereits der Besuch von Nachbar Lenski ein Ereignis ist, auf das der Haushalt mit hektischem Flattern reagiert. Klar, dass Tatjana sich auf der Stelle in Lenskis romantisch verwegenen Freund Eugen Onegin verliebt. Denn wer wenn nicht er könnte sie aus dem ländlichen Biedermeier retten und in stürmische Höhen entführen?

Aber wie tickt eigentlich Eugen Onegin? Der Mann, der die verliebte Tatjana erst überheblich abserviert, dann mit der Freundin seines besten Freundes Lenski flirtet und schließlich den Eifersüchtigen im Duell erschießt? Regisseurin Lotte de Beer schärft in ihrer emotional hoch verdichteten und um Deutlichkeit bemühten Inszenierung das Profil der Titelfigur.

Onegin steht mit dem Rücken zum Publikum im kalten Lichtkegel. Ein Bild der Einsamkeit. In De Beers Lesart hat er Tatjanas Liebesbrief positiv beantwortet. Doch dann malt er sich in Gedanken aus, was passieren wird, wenn er ihn überreicht hat: Die Frau klammert sich an ihn, wird zur Last. Onegin gerät in Panik, zerreißt seinen Brief und erteilt Tatjana eine Abfuhr. Er flüchtet. Mit äußerer Härte hält er alles von sich fern, was ihn innerlich bewegen könnte - ein (selbst-)zerstörerischer Weg, wie ihn die Regisseurin in einer zweiten Traumsequenz nach dem Tod Lenskis ausbuchstabiert, Onegins bizarrer Tanz auf dem Vulkan zur Ballmusik des dritten Akts. Das ist mehr als eine elegante Überleitung.

Der Sack Briefe, den Lenski in der Vision ausgeschüttet hat, bereitet die Szene für den letzten Dialog zwischen Tatjana und Onegin. Die beiden sehen sich nicht von Angesicht zu Angesicht. Onegin belagert die verheiratete Tatjana mit Briefen. Die Szene gehört zu den spannendsten der Inszenierung, weil sie Fragen aufwirft. Liebt er Tatjana wirklich? Oder wiederholt er ihre Briefszene so manisch, um das Gefühl erst zu erzeugen? Ist er verzweifelt, weil er sie verloren hat? Oder weil er sich selbst verloren hat?

Einen deutlich spürbaren Effekt hat das Bühnenbild von Marouschka Levy. Sie schuf auch die Epochenmix-Kostüme, die vage "Vergangenheit" signalisieren. Das übermöblierte und Gemütlichkeitsterror ausstrahlende Gutshauszimmer wirkt eh schon beklemmend. Wenn dann aber noch die Partygäste zu Tatjanas Ehren mit bunten Hütchen auf dem Kopf durch die enge Bude tollen und das Licht erst grünstichig und dann grell weiß wird (subtile Lichtregie: Henk van der Geest), dann bekommt man ein tiefes Verständnis für Tatjanas Elend.

Noch vor dem Duell kommt die Pause. Danach öffnet sich der Vorhang, und die Bühne ist leer, tief, düster. Ein paar Lichtstrahler lassen Nebel effektvoll wallen. Ein schauerromantischer Raum, in dem Lenskis Arie ihren wehmütigen Zauber entfaltet und Onegins Höllenfahrt ihren Anfang nimmt.

Und wie hinreißend dieser "Eugen Onegin" erst musikalisch ist. Die Bielefelder Philharmoniker unter der Leitung von Alexander Kalajdzic zeigen überlegene Gestaltungskraft. Das Spiel ist elastisch und pulsierend, straff und transparent. Das emotionale Feuerwerk wird mit viel Fingerspitzengefühl und Sinn für Spannungsbögen, Farben und Schattierungen gezündet.

Star des Abends ist zweifellos Sarah Kuffner, die mit ihrer Tatjana einen weiteren Meilenstein ihrer jungen Karriere erreicht. Kuffner lebt diese große, fordernde Partie auf der Bühne mit jeder Faser und meistert sie darstellerisch wie stimmlich glänzend. In der Briefszene durchwandert sie mit fiebriger Intensität die extremen Seelenzustände der Heldin, spürt Nuancen zwischen jubelnder Ekstase und stiller Angst auf. In der Schlussszene mit Onegin wagt sich der Powersopran expressiv noch einen Schritt weiter vor.

Levent Bakirci ist ein überzeugend zerrissener und gequälter Onegin. Glanzlichter setzt der Tenor Daniel Pataky als temperamentvoller Lenski. Seine mit viel Schmelz und Inbrunst gesungene Arie vor dem Duell gehört zu den Höhepunkten der Oper. Vuokko Kekäläinen ist Larina, gluckenhaft-komisch, aber auch ein herrischer Plagegeist ihrer Tochter Tatjana, Sünne Peters gibt die Haushälterin Flilipjewna. Die stumme Rolle des Onegin-Doubles erweckt Dirk Mestmacher mit vollem Körpereinsatz zum Leben.

Die nächsten Vorstellungen sind am 12., 20., 24. und 31. März, 4. April sowie am 11. Mai. Karten unter Tel. (05 21) 555-444. Informationen unter www.theater-bielefeld.de