Interview

„Freiheit fließt nicht durch den Wasserhahn!“

Im August feierte der Musiker und Komponist Leslie Mandoki den 50. Jahrestag seiner Flucht durch den Eisernen Vorhang in die Freiheit. Das Thema „Freiheit“ ist dem Ex-„Dschinghis Khan“-Sänger seitdem ein großes Anliegen. Ein Gespräch im Kontext des 35. Jahrestages der Deutschen Einheit.

Schätzt die Freiheit, machen zu können, was er möchte: Leslie Mandoki, Musiker und Produzent, hier am Mischpult im Tonstudio seiner Produktionsfirma Red Rock Production. | © picture alliance/dpa

03.10.2025 | 03.10.2025, 00:00

Herr Mandoki, der Tag der Deutschen Einheit wird nun zum 35. Mal gefeiert. Welche Bedeutung hat dieser Tag für Sie persönlich?

LESLIE MANDOKI: Der Tag der Deutschen Einheit ist für mich von besonderer Bedeutung, sowohl emotional als auch intellektuell. Am 30. Jahrestag spielten wir im Konzerthaus in Berlin das Festtagskonzert, somit bin ich mit der Deutschen Wiedervereinigung auf eine sehr persönliche Weise zusätzlich verbunden. Ich wurde ja in Budapest geboren und erlebte 1956 den ungarischen Volksaufstand gegen die russische Unterdrückung. Diese Erlebnisse sind tief in meiner Erinnerung verankert und prägen mein Verständnis für Freiheit. Die Ereignisse von 1989 – der Fall der Berliner Mauer – erinnere ich als einen glücklichen historischen Moment, der für viele von uns wie ein Wunder erschien. Es war ein Moment, den niemand erwartet hatte: ein friedlicher Wandel ohne Blutvergießen. Heute blicke ich darauf mit Stolz und zugleich mit einer gewissen Enttäuschung, dass wir nicht mehr aus dieser einzigartigen Gelegenheit gemacht haben. Im Herbst 1989 regnete es Glück vom Himmel, und wir hatten alle Möglichkeiten, ein freies und friedliches Europa für viele Generationen zu erschaffen.

Wird der europäische Westen je wirklich verstehen, was hinter dem Eisernen Vorhang passiert ist, also unter welchen Umständen die Menschen damals leben mussten?

Ich glaube nicht, dass der Westen die Erfahrungen der Menschen im Osten wirklich nachvollziehen kann. Die Lebensrealität hinter dem Eisernen Vorhang war sehr komplex und vielfältig. Der „Gulaschkommunismus“, wie wir ihn in Ungarn erlebten, war weitaus weniger brutal als das, was in anderen Staaten des Ostblocks geschah. Jeder erinnert sich vielleicht daran, wie in Rumänien der Diktator Ceausescu am Ende seiner Herrschaft gestürzt und mit seiner Frau erst verurteilt und dann erschossen wurde, während in Ungarn der letzte kommunistische Regierungschef friedlich nach London floh und am gleichen Tag Präsident der Weltbank wurde. Die Unterschiede im Umgang mit der Bevölkerung, die politische Repression und die verschiedenen Arten der Diktatur waren extrem. Der Westen sah diese Unterschiede oft nicht, weil er sie unter dem gleichen Begriff „Ostblock“ zusammenfasste. Vor allem ist kulturell viel Spannendes und Wertvolles unter dem Radar der Repressalien passiert.

Was war der ausschlaggebende Punkt für Ihre Flucht aus Ungarn?

Für mich war es ausschließlich der Wunsch nach Freiheit. Es war nicht der eine Moment, sondern eine kumulierte Erkenntnis, dass ich in einem System gefangen war, das mich in meiner Entfaltung behinderte. Die Zensur, die ständige Überwachung und vor allem die Einschränkungen, dass ich nie eine Ausreisegenehmigung, geschweige denn einen Pass bekommen würde, waren erdrückend. Auch wenn wir mit unserer Band erfolgreich waren und trotz der Zensur vor allem für Studenten auftraten, war es für mich unvorstellbar, mein Leben hinter dem Eisernen Vorhang zu verbringen. Ich wollte frei sein – frei, mich auszudrücken, Fehler zu machen und ein Leben in Würde zu führen. Diese Sehnsucht nach Freiheit war der Hauptfaktor für meine Flucht.

Was unterscheidet die Menschen, die damals in den Westen flüchteten, von den Menschen, die heute flüchten?

Der größte Unterschied liegt im politischen Kontext. Als ich floh, war es ein politischer Akt der Befreiung von der kommunistischen Diktatur. Es war ein Akt der Hoffnung, einen Teil des freien Westens zu erleben, ohne in politischer Zensur und Einschränkung leben zu müssen. Heute sehen wir Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen flüchten, viele aufgrund von Krieg, Armut oder auch politischer Unterdrückung. Sie fliehen auf jeden Fall aus einer für sie unerträglichen Situation, und erhoffen für sich und ihre Familien ein besseres Leben. Während die Ursachen für die Flucht von heute auch politisch sein können, wie Krieg, Armut, Aussichtslosigkeit, ist der Wunsch nach Freiheit unserer westlichen Ausprägung oft durch weitere Faktoren wie wirtschaftliche Not oder Verfolgung motiviert. Diejenigen, die damals wie ich flüchteten, wollten eine Welt der freien Entfaltung, heute fliehen viele vor existenziellen Bedrohungen.

„Ich fühle mich eigentlich immer noch wie 30.“

Wie sehen Sie die heutige Situation in Russland und die Bedeutung der Kunst in solch einer Zeit?

Die heutige politische Situation in Russland ist für mich zutiefst erschütternd. Ich erinnere mich an die Jahre der sowjetischen Besatzung in Ungarn und an die Militarisierung der Gesellschaft, die ich dort erlebte. Ich erlebte den Einfluss des Kommunismus auf die Kultur und die Menschen, die unterdrückt wurden. In Russland erleben wir heute eine ähnliche Militarisierung, die sich in der Aggression gegen die Ukraine manifestiert. Als Künstler und Musiker habe ich eine Verantwortung. Unsere Aufgabe ist es, uns gegen das Dunkle zu stellen und diejenigen zu unterstützen, die unterdrückt werden. Künstler müssen die Stimme der Opfer erheben und das Unrecht anklagen, wo es geschieht. Die Kunst darf nicht schweigen, sondern muss sich gegen das Unrecht stellen, besonders in diesen Zeiten, in denen sich die Gesellschaft in einem Labyrinth der Krisen ohne Kompass befindet! Kunst muss immer frei denken und fühlen dürfen, um auch diesen verlorenen Kompass wiederzufinden, in den Zeiten, in denen Gewissheiten wackeln.

War das auch die Motivation für das große „Fest der Freiheit“, das Sie im Sommer in Ungarn mit vielen weltbekannten Musikern initiiert haben?

Ja, das Fest hatte das Thema „Sehnsucht nach Freiheit“. Es geht immer um Menschlichkeit, um das Streben nach einer besseren Welt. Kunst und Musik sind Ausdruck dieser Sehnsüchte. Das Konzert sollte daran erinnern, wie wichtig es ist, Freiheit zu feiern und, wenn es sein muss, zu verteidigen. In einer Zeit, in der wir wieder mit einer globalen Krise konfrontiert sind, müssen wir uns erinnern, dass Freiheit und Menschlichkeit universelle Werte sind, die uns verbinden und uns helfen, als Gesellschaft zusammenzuwachsen. Die Sehnsucht nach Freiheit ist kein alter, überholter Traum, sondern ein notwendiges Ziel, für das wir weiterhin kämpfen müssen.

Was hält Sie als mittlerweile 72-Jährigen fit und motiviert Sie, weiterzumachen?

Ich fühle mich eigentlich immer noch wie 30. Das Alter steht nur in meinem Pass, aber mein Leben und meine Energie sind unverändert. Ich habe nie gesundheitliche Probleme gehabt und stehe jeden Morgen genauso früh auf wie früher. Ich glaube, es ist die Leidenschaft für die Musik und die Verantwortung gegenüber meiner Generation und der nächsten, die mich antreibt. Ich möchte sicherstellen, dass die nächsten Generationen in einer besseren Welt leben können.

Was würden Sie der heutigen Jugend raten?

Ich würde der jungen Generation sagen, dass Freiheit nicht selbstverständlich ist. Sie müssen dafür kämpfen und Verantwortung übernehmen. Freiheit fließt nicht durch den Wasserhahn. Es ist wichtig, sich bewusst zu machen, dass wir in einer Welt leben, in der alles nicht gegeben ist. Die Freiheit, das Leben zu gestalten, muss täglich neu erkämpft werden. Die sozialen Medien und die oft zu perfekte Welt, die sie darstellen, sind nicht real. Es ist entscheidend, dass die junge Generation erkennt, dass wahre Freiheit mit Verantwortung und Commitment einhergeht. Die Herausforderungen, vor denen wir heute stehen, sind gewaltig, aber ich bin zuversichtlich, dass wir sie gemeinsam überwinden können, wenn wir uns auf die wirklichen Werte besinnen, so wie ich auf meinen Konzerten sage, „the old rebels and the young rebels Hand in Hand“.

Zur Person

Leslie Mandoki (eigentlich László Mándoki) wurde am 7. Januar 1953 in Budapest geboren und studierte dort am Musikkonservatorium, wo er sich in der studentischen Opposition engagierte und wiederholt verhaftet wurde. 1975 gelang ihm gemeinsam mit Freunden die Flucht nach Österreich und anschließend nach Deutschland. Hier wurde Mandoki als Mitglied der Band Dschinghis Khan bekannt, die 1979 mit dem Hit „Moskau“ am Eurovision Song Contest teilnahm und den vierten Platz belegte. Nach Dschinghis Khan etablierte sich Mandoki als Solokünstler und Musikproduzent. Er arbeitete mit Größen wie Placido Domingo, Lionel Richie, Phil Collins und den No Angels zusammen. 1992 gründete er die Supergroup Mandoki Soulmates, die sich dem Jazzrock der 70er Jahre und intellektueller Rockmusik widmet. Mit dieser Band hat er zehn Alben veröffentlicht und ist mit vielen Jazz- und Rockikonen aufgetreten, zuletzt beim „Konzert der Freiheit“ im Sommer 2025 in Budapest, wo unter anderem auch Jazztrompeter Till Brönner auftrat.