Herr Müller, Herr von Lowtzow und Herr Zank, nach 15 Jahren bei Universal ist „Golden Years“ Ihr Debüt bei Sony Music. Haben Sie dort eine Sonderstellung mit absoluter künstlerischer Freiheit?
JAN MÜLLER: In der Musikbranche gibt es Künstlerverträge und Bandübernahmeverträge. Wir haben seit jeher in der Zusammenarbeit mit Majorlabels immer Bandübernahmeverträge. Das bedeutet, dass wir künstlerische Freiheit genießen. Natürlich muss man mit Vertragspartnern zusammenarbeiten. Wir freuen uns auch über Input. Bisher war alles immer angenehm.
Das Album beginnt mit der Ballade „Der Tod ist nur ein Traum“. Fasst dieser melancholische Song die Stimmung der Platte zusammen?
DIRK VON LOWTZOW: Es ist eher ein Einstieg in die Stimmung des Albums und hat eine paradigmatische Funktion. „Der Tod ist nur ein Traum“ nähert sich an eine bestimmte Art von amerikanischem Songwriting an, die als The Great American Songbook bezeichnet wird. Es ist ein Folksong mit einer recht traditionellen Struktur. So wie hier der Text auf die Musik gesetzt ist, ist es bei deutschsprachiger Musik eher unüblich. Das Album ist insgesamt ein bisschen folkiger als seine Vorgänger. Auch „Golden Years“ hat solch eine Anmutung. Neben einem Dub-Stück gibt es auch zwei Beispiele für die berühmten Toco-Shuffles, die aus dem britischen Post-Punk kommen.
Es ist nicht schwer zu erkennen, dass in Europa die goldenen Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg vorbei sind. Hoffen Sie dennoch auf goldene Jahre für die Band?
VON LOWTZOW: Uns reizt an dem Titel seine Doppelsinnigkeit. Man kann ihn als Hoffnungsschimmer betrachten oder leicht sarkastisch lesen. Wie er in dem Lied benutzt wird, hat etwas von einer eleganten Lakonie. Da schwingt ein Schulterzucken mit, weil „Golden Years“ im englischen Sprachgebrauch ein feststehender Begriff für das letzte Lebensdrittel ist. Unterm Strich kommen wir auch schon auf 14 Alben, und es gibt uns seit 30 Jahren. Ein Rockjahr sind sieben Menschenjahre wie bei einem Hund, weshalb wir schon im Golden-Years-Alter sind. Und natürlich gibt es den gleichnamigen Song von David Bowie.
Aufgrund von Bowies starkem Kokainkonsum erinnerte er sich später an fast nichts mehr von der Produktion von „Golden Years“ und dem Album „Station To Station“. Wie heißt denn Ihre Kreativdroge?
MÜLLER: Bei mir sind es ganz klar Konzertbesuche. Da komme ich zur Ruhe und zum Nachdenken, weil man da nur mit der Musik kommuniziert. Das muss nicht zwangsläufig Rockmusik sein, ich höre auch gern Klassisches.VON LOWTZOW: Bei mir ist es Schlafen – und Kino. Kino hat etwas Traumhaftes. Da kann ich in Ruhe nachdenken, manchmal auch am Film vorbei. Bei mir gibt es in der manischen Phase des Albumschreibens den Moment, dass ich Stücke direkt nach dem Aufwachen komponiere. Da ist man noch traumversponnen, was einer Drogenerfahrung am nächsten kommt. Nachmittags ist bei mir immer Schicht im Schacht.ARNE ZANK: Mich spricht schlafen sehr an – und spazierengehen. Ich kann zu Hause nicht viel Musik hören, weil mich unsere eigenen Sachen zu sehr aufregen. Deshalb muss ich damit rumlaufen oder in einer übervollen U-Bahn sitzen. Das klingt absurd, aber da kann ich mich am besten aufs Schlagzeug konzentrieren und Ideen entwickeln. Das Stück „Niedrig“ zum Beispiel besitzt ein Dub-Feeling, das wir so explizit noch nicht hatten. Unser Toningenieur Max Power hat das Stück live gedubbed.
„Wir wussten am Anfang nicht, was am Ende rauskommt“
Haben Sie sämtliche Stücke gemeinsam aufgenommen?
VON LOWTZOW: Genau das Gegenteil war der Fall. Das war ein dialektischer Prozess, weil wir die größtmögliche Wechselwirkung zwischen den Instrumenten herstellen wollten. Wir befanden uns zu keiner Zeit gemeinsam in einem Raum, wir haben auch nicht gemeinsam geprobt. Das war wie ein Papierfalzspiel: Man fängt mit dem Kopf an, dann folgen der Rumpf und die Beine. Wir wussten am Anfang nicht, was am Ende rauskommt. Es war ein Spiel mit dem Zufall und mit offenen Enden. Unser Produzent Moses Schneider hat sich oft in sehr intime Situationen mit einem von uns befunden. Gleichzeitig war es sehr dialogisch, weil man sich immer auf das bezogen hat, was der andere vorher schon gemacht hat. Dass das Album wie aus einem Guss klingt, ist Moses’ Genialität geschuldet.
Denken Sie beim Songschreiben eigentlich immer konzeptionell?
VON LOWTZOW: Es geht bei mir immer in Richtung einer Sammlung mit einem roten Faden. Ich glaube, Songs können alleine nicht denken, sie können das nur im Zusammenhang mit all dem anderen, was wir bisher gemacht haben.
Ihr Gitarrist Rick McPhail hat sich eine Auszeit auf unbestimmte Zeit genommen. Warum haben Sie ihn nicht ersetzt?
VON LOWTZOW: Rick ist auf dem gesamten Album noch dabei, und erst dann ist dieser Prozess eingetreten.
Wird er eines Tages zur Band zurückkehren?
VON LOWTZOW: Um seine Privatsphäre zu schützen, können wir darüber keine weiteren Auskünfte geben.
Ist „Bye Bye Berlin“ Ihr persönlicher Abgesang auf die Hauptstadt? Ist Berlin nicht mehr hip und cool?
VON LOWTZOW: Eigentlich war es so nicht gemeint. Das Stück ist inspiriert von dem Gemälde „Bye Bye Berghain – Fire at the Church of Clubs“ des amerikanischen Künstlers Austin Martin White. Das fand ich poetisch, witzig und provokativ. Aber wenn man jetzt an die Kulturkürzungsorgien denkt, hat man schon den Eindruck, dass Berlin vielleicht eine Stadt ist, die nicht unbedingt in die Zukunft schaut, sondern eher in die Vergangenheit. Dadurch wird das Stück viel politischer als es eigentlich gemeint war. Ich würde schon sagen, es hat etwas von einem Abgesang, weil Berlin sehr viel abweisender geworden ist.
„Wohin wir ziehen, ist nicht bekannt“, heißt es in „Bye Bye Berlin“. Bleiben Sie vorerst noch in der Stadt?
VON LOWTZOW: Man darf das nicht allzu wörtlich nehmen, wir haben natürlich die Band hier. Das Lied gibt eher eine Stimmung wieder. Die Vorstellung war, auf die Stadt aus der Vogelperspektive zu schauen und eindringliche Bilder von Chaos und Zerstörung wie ein brennendes Berghain zu kreieren.
Muss man schon Optimist sein, um sich für das unstete Leben eines freischaffenden Künstlers zu entscheiden?
MÜLLER: Diesen Gedanken haben wir schon so lange im Hinterkopf wie wir diese Band betreiben. Es ist dann doch beständiger als viele als solide geltende Jobs heutzutage. Aber klar, wir sind keine Beamten.
Über die Band
Tocotronic ist eine deutsche Rockband aus Hamburg, die sich 1993 gründete. Der Name ist abgeleitet von der japanischen Spielkonsole Tricotronic, einem Vorgänger des Game Boy. Mitglieder sind Jan Müller (Bassgitarre), Arne Zank (Schlagzeug) und der aus Freiburg zugezogene Gitarrist und Sänger Dirk von Lowtzow. Ähnlich wie Blumfeld stellte die Band nicht nur eine Innovation für deutschsprachige Musik dar, sondern inspirierte auch mehrere spätere Bands. Zusammen mit zum Beispiel Blumfeld, Die Sterne oder Rocko Schamoni bildeten sie die sogenannte „Hamburger Schule“, wobei sie diese Zuordnung ablehnen; sie möchten lieber als eine Band, die „weitschweifigen Rock“ macht, gesehen werden, was die eher intellektuelle Einstellung bezüglich Popmusik betone.
Tocotronic live 2025
Mittwoch, 9.4., 20 Uhr, Kulturzentrum Schlachthof, Bremen;
Donnerstag, 10.4., 20 Uhr, FZW, Dortmund;
Freitag, 11.4., 20 Uhr, Capitol, Hannover;
Samstag, 12.4., 20 Uhr, E-Werk, Köln;
Karten (ab 47,45 ): NW und hier