Bielefeld. „Let It Be" von den Beatles hört Ralf Tyra zum ersten Mal 1971, bei einer Garagenparty seiner Cousine. Da ist er 14 und die Beatles haben sich schon aufgelöst. Damals mildert der Song für ihn den Stress mit den Eltern und den Druck in der Schule. Das Lied wird ihm das ganze Leben hindurch immer wieder Halt geben, auch als er mit 53 Jahren lebensbedrohlich erkrankt und düstere Monate durchmacht. In jener Zeit ist ihm Paul McCartneys mit Bibelzitaten gespicktes „Let It Be" ein Licht, „das scheint, auch wenn man es nicht sieht".
So formuliert es der Pastor und Leiter des Hauses Kirchlicher Dienste der ev.-luth. Landeskirche Hannovers in seinem Beitrag für den Band „Doppelalbum. Popmusik und Biographie". 18 ältere, aber auch jüngere Menschen aus dem kirchlichen Bereich – Geistliche, Theologiestudentinnen, Kirchenvorständler – schreiben jeweils über zwei Alben oder Songs, die sie geprägt haben und die ihnen in religiös-spiritueller Hinsicht wichtig sind.
"Rausgerotzter Zorn"
Annette Behnken (51) aus Bielefeld fühlt sich zwischen 18 und 20 vor allem von der Band „Ton, Steine, Scherben" und deren Album „Keine Macht für niemand" verstanden. „Auf den Punkt rausgerotzter Zorn", schreibt die Pastorin, die heute Studienleiterin an der Ev. Akademie Loccum ist. Ihr Zorn richtet sich damals auf „14 Jahre Schulgefängnis und Lehrer, deren Autorität ich nicht erstnehmen konnte." Dirk Brall (45), Leiter des Literaturhauses St. Jakobi Hildesheim, entkommt 1991 mit U2 und deren „Achtung, Baby!" der dörflichen Enge seiner Jugend. Für Katja Lembke (55), Direktorin des Landesmuseums in Hannover und kulturelle Beraterin der Landeskirche, ist mit 14 Sandy aus dem Musical „Grease" Vorbild genug für ihren „Wunsch nach Revolte und Befreiung".
Die Idee zu dem Sammelband hatte Matthias Surall, bis 2016 ev. Studentenpfarrer in Paderborn und heute in Diensten der Landeskirche Hannovers. „Pop und Rock sind seit Jahrzehnten der Soundtrack des Lebens vieler Menschen", sagt der 58-Jährige, der in „Doppelalbum" seine Begeisterung für Bob Dylans „christliches" Album „Slow Train Coming" (1979) und Nick Caves „Dig!!! Lazarus Dig!!!" erklärt. Als sogenannter Kulturpastor erkennt Surall in Popmusik nicht zuletzt eine „breite Anschlussfähigkeit" für kirchliche Arbeit. Schließlich nutzt sie häufig religiöse Symbolik und berührt existenzielle Fragen von Liebe bis Tod. „Mit spirituellen Themen in Popsongs", ist Surall überzeugt, „werden mehr Menschen erreicht als durch kirchliche Verlautbarungen, Andachten und Gottesdienste".
Das popmusikalische "erste Mal"
Popmusik ist besonders wirkmächtig, weil sie als Gesamtkunstwerk auf verschiedenen Ebenen funktioniert – intellektuell, emotional, visuell, motorisch. „Nachhaltig wird der biografische Soundtrack in der Teenager-Zeit geprägt, wenn die großen Fragen erstmals anstehen, auch die nach der Selbstfindung", erläutert Surall.
Das popmusikalische „erste Mal" ist oft mit konkreten Erinnerungen an Ort und Zeit verbunden. Das spiegeln auch die in „Doppelalbum" wiedergegebenen Erfahrungen. Der Plattenladen, in dem 1981 das komplette Taschengeld des Monats für das „Greatest Hits"-Album von Queen verprasst wurde, steht auch nach vier Jahrzehnten noch genau vor Augen. Der scheppernde, dennoch alles verheißende Sound aus der „Schneider-Kompaktanlage", ist ebenfalls noch im Ohr. Eindringlicher sind jedoch die Passagen, in denen die Musik nicht nur Erinnerungen an früher auslösen, sondern in denen erzählt wird, warum man immer wieder zu ihnen zurückkehrt, womöglich mitsingt und sie anderen dringend nahelegt.
Einsame Progrock-Liebe
Johannes Feisthauer (33), Pastor in Georgsmarienhütte, findet in Radioheads Album „In Rainbows" (2007) jedes Mal aufs Neue „Wärme und den zutiefst menschlichen Ausdruck dessen, was den Menschen antreibt". Pastorin Imke Schwarz (45) wird von Ina Müllers plattdeutsch gesungenem „Mama" verlässlich in Gedanken in ihren norddeutschen Heimatort transportiert. Stiftungsberater Martin Käthler hält schon fast rührend seit Jugendtagen an seiner einsamen Liebe zur Progrock-Band Camel und deren märchenhaften Songgeschichten etwa über Schneegänse und ein Mädchen namens Fritha fest. AC/DCs „Highway to Hell" oder Hip-Hop finden sich beinahe erwartungsgemäß nicht unter den Musikvorlieben dieses Autorenkreises, ansonsten ist fast alles vertreten, vom Theologen-Liebling Leonard Cohen bis zum exquisiten melodischen Pop von Prefab Sprout.
Das Lebenslied von Jan von Lingen, Pastor und Liedermacher, ist Carole Kings „You’ve Got a Friend". Ein junger Amerikaner brachte es 1979 dem damals 17-Jährigen bei, der mit Rucksack und Gitarre durch Frankreich trampte. Zu Hause in Deutschland zog das Lied mit der tröstlichen Botschaft, das in James Taylors Version zum Welthit wurde, auch von Lingens Familie und Freundeskreis in den Bann. „Bis heute wird es bei Treffen angestimmt", schreibt er. „Inzwischen können es auch die Kinder auswendig."
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