Bielefeld. Jenseits der vierzig ist die Liebe anders. Die Liebenden sind komplexer, auch komplizierter. Mutig entscheiden sich ein namenloser Erzähler und die Kleidermacherin Ora dennoch für eine gemeinsame Reise, ein Roadtrip an der amerikanischen Westküste entlang. Das ist angesichts der beiden Persönlichkeiten schon etwas Besonderes, denn beide sind randvoll mit Erfahrungen, Enttäuschungen und Zweifeln. Auf einer Hochzeit lernen sie sich beim Rauchen kennen. Er findet sie attraktiv. Sie schreibt die erste Mail, und beide nehmen die gleichen Antidepressiva gegen allzu viel Traurigkeit.
Kumpfmüller, geboren in München und heute Wahlberliner, ist ein promovierter Historiker, arbeitete zunächst als Journalist und seit 1999 als freier Schriftsteller. 2000 erschien sein Debütroman „Hampels Fluchten". Der Roman „Herrlichkeiten des Lebens" wurde in 25 Sprachen übersetzt. „Ich scheine doch ein glücklicher Autor zu sein", sagt Michael Kumpfmüller zur Einleitung von Klaus G. Loest, stellvertretender Leiter der Stadtbibliothek.
"Wir sind Pfuscher auch in der Liebe"
„Tage mit Ora" heißt sein inzwischen sechster Roman und ist geprägt durch ein Gespür für zwischenmenschliche Nuancen, die auch vor der kontinuierlichen Selbstanalyse des Protagonisten nicht haltmacht.
In der Stadtbibliothek liest der 57-Jährige erste Passagen aus dem Roman in 13 Kapiteln, der an 13 Tagen spielt. Man hört von der stetig auf der Kippe stehenden Beziehung. Beziehung im Sinne einer sehnsüchtigen Begegnung, die auf Nähe hofft, und ist sie da, die Distanz einläutet. Fragil ist sie, genährt von fehlendem Vertrauen, Unsicherheit und Zögern. So ist es kein Wunder, dass auch der Titel nicht von der Liebe zu Ora spricht. Sachlich benennt er die gemeinsam verbrachte Zeit, die sich von Augenblick zu Augenblick neu entscheidet.
Eine Verbeugung vor dem Schriftsteller Harold Brodkey
Klaus G. Loest hat recherchiert, deutet den Namen „Ora" mit „Hora", der Zeit, zitiert das benediktinische „Ora et labora". Der Name sei eine Verbeugung vor dem amerikanischen Schriftsteller Harold Brodkey und seine berühmte Erzählung „Unschuld", so Kumpfmüller. Darin erzählt Brodkey von der Studentin Ora, die von ihrem Liebhaber Wiley auf rund 50 Seiten zum Orgasmus verführt wird. Den Namen Lynn, Exfrau seines Erzählers, habe er angelehnt an Max Frisch Erzählung „Montauk".
Bei einem guten wie anregenden Romancier ist eben nichts zufällig, schon gar nicht das Erfundene. Autobiografisch sei auch einiges. Zum Beispiel Kumpfmüllers Liebe für die Band „Bright Eyes" und den traurig-sehnsüchtigen Song „June on the West Coast". Ein Lied, das im Roman eine entscheidende Rolle spielt. „Ich bin immer gerührt, wenn ich diesen Song höre", sagt Kumpfmüller, denn die Pianistin Anna Suzuki spielt und singt das Stück bei den Literaturtagen live. „Das ist das Schöne am Schreiben", sagt der bestens gestimmte Schriftsteller über den autobiografischen Schlenker und betont, dass Bücher immer auch Selbstgespräche seien.
Namenlos bleibt der Ich-Erzähler
„Wir sind Pfuscher" auch in der Liebe, so Kumpfmüller. Manchmal mangle es einfach an dem richtigen Werkzeug. Unumwunden erzählt er, dass er begrifflich auf eine „Art Heimwerkerbewusstsein" zurückgegriffen habe und auch selbst ein Heimwerker sei.
Namenlos bleibt der Ich-Erzähler. Der Autor und Erfinder hilft, denn jemanden mit Namen nennen, bedeute stets auch ein Grad für Intimität. So wie Ora Freude empfindet und ihr Verehrer im selben Moment Glück, so wählt Michael Kumpfmüller für beide eine eigene Sprache für je ein besonderes Gefühl der Zuneigung und lässt das Ende offen.