Bielefeld. Der Literaturkritiker Denis Scheck bezeichnete ihn jüngst als „Wahrnehmungsmonster“, dem Sachen auf- und einfallen, die unsereins jedoch nicht in Worte fassen könne. Dabei schärft der Schriftsteller Max Goldt seine Sprachgewalt schlichtweg durch „ständigen regen Gedankengang, einen gewissen Gestaltungswillen und Learning by doing“, wie er bekundet.
Dass die eigentliche Schreibarbeit ein hartes Unterfangen ist, bei dem er selber nicht viel lacht, ist seinen irritierend-sprunghaften, augenzwinkernd-trocken dargebotenen Ausführungen im nahezu ausverkauften Theater am Alten Markt gar nicht anzumerken.
"Lippen abwischen und lächeln"
Immer wieder dreht sich sein vor Schachtelsätzen berstendes Blatt um die absurden und banalen Dinge des Alltags, der „sexy-lecker-geilen“ wie geistesarmen Kleinbürgerlichkeit, aber auch des vermeintlichen wie hochgejubelten Stars von heute. Auch wenn sich Goldts Formulierungen im Spiegel der Betrachtungen und Zeit gerne ändern und in „aktualisierter“ Form wieder zu Papier und Druck gebracht werden. So wie im zuletzt erschienenen Sammelband „Lippen abwischen und lächeln“, in dem querschnitthaft vieles an Texten, Bildern und Comics zusammenkommt, was Goldt in den letzten 30 Jahren in den scharfen Sinn gekommen ist.
Aber wie ließen sich diese Texte einordnen? Als Satire? Nicht wirklich, denn Goldt erfindet vieles selbst, liest am heutigen Abend unter anderem eine Collage imaginärer Interviewantworten. Beispiel: „Sie wollen ein Lebensmotto hören? Man sollte den russischen Zupfkuchen zupfen, solange er sich noch zupfen lässt“. Doch manchmal richtet sich sein Blick auch zwangsläufig gen Medien. Angesichts der Künstler-Hommage in einer Nachrichtensendung, die er als „Petra Gerster versus David Bowie“ verarbeitete, kommt er zu dem Schluss, dass sich die Redakteure in zehn Stunden Recherchearbeit doch etwas mehr Mühe hätten geben können, als Bowie zu Unrecht als Multitalent zu würdigen.
Makabres, aber gekonnt die Augen öffnendes Gedankenspiel
In Goldts Betrachtungen über „die schlimmen Schleimvideo-Mädchen“ nimmt er süffisant die Absurdität der Freizeitbeschäftigungen junger Youtuberinnen aufs Korn, die sich von verwunderten Vätern kiloweise Rasierschaum und literweise Kontaktlinsenflüssigkeit besorgen lassen, um Schleim herzustellen und damit vor der Kamera herumzuspielen. Aus Mangel an Kontaktlinsenflüssigkeit würden daher bereits in Indien immer wieder Menschen überfahren. Ein makabres, aber gekonnt die Augen öffnendes Gedankenspiel.
Ebenso frotzelt Goldt genüsslich über Tortenheber und Fieberthermometer im Gender-Design, fiktive Fachgespräche unter frustrierten Sexualhistorikerinnen, die mögliche Umdrehungsfrequenz des Restaurants im Berliner Fernsehturm.
Mögliches Fazit des Abends: Goldt kann sich sicher sein, dass die „wolkenverhangene Dunkelziffer“ aus der „Absurdistan und Banalistan“-Welt weitaus höher ist und ihm daher der Stoff nie ausgehen wird. Welch ein Glück für seine leidenschaftlichen Leser und zugeneigten Zuhörer.