Neue Ausstellung im Diözesanmuseum Paderborn: Mittelalter trifft auf zeitgenössische Kunst

Paderborn. Die Macht des Windes ist den Menschen in Paderborn vor knapp drei Jahren vor Augen geführt worden. Wenige Minuten reichten dem Tornado Emmelinde für eine Schneise der Verwüstung. Doch oft ist Wind nicht direkt spürbar und seine Folgen erst spät sichtbar. Und ja, selbst Atmen ist Wind. Dem Phänomen Wind widmet sich das Diözesanmuseum Paderborn mit der Ausstellung &bdquo;Before the Wind“. Dabei trifft die mittelalterliche Sammlung auf zeitgenössische Audio- und Videokunst. Die Videoinstallateurin Claudia Brieske (Berlin) und die Stimmkünstlerin und Komponistin Franziska Baumann (Bern) arbeiten seit vielen Jahren zusammen. Sie wollen das Ungreifbare erlebbar, das eigentlich Unsichtbare sicht- und fühlbar machen: vom Sehen zum Hören, vom Hören zum Sehen. Für die Paderborner Ausstellung widmen sie sich dem kraftvollen und dennoch unsichtbaren Element Wind mit Videos und Soundstationen und erforschen seine technischen, gestischen und spirituellen Dimensionen. Drei Windfiguren, die auf der kapverdischen Insel Boa Vista geschaffen wurden, durchziehen das Museum. Drei Figuren, die über alle Ebenen in den Dialog und Austausch mit Skulpturen und anderen Werken treten - als Zyklus von Werden und Vergehen. Wie Brieske und Baumann sagen, liegt Kap Verde am Anfang des Jetstreams als globalen Windsystem. Drei Windfiguren leiten durch die Paderborner Ausstellung Den drei archetypischen Figuren sind drei Landschaftstypen von Boa Vista zugeordnet. Mit der &bdquo;Windfigur der roten Steinwüste“ – Geschwindigkeitswächterin und Hüterin der Zeit - beginnt die Zeit und damit das Wehen des Windes. Die &bdquo;Windfigur der blau-grauen Steinwüste“ strebt danach, die Landschaft zu überschreiben, sie auszugestalten, eine Lebens- beziehungsweise Blutspur zu legen. Gekleidet ist sie in einen Mantel mit langer, durchsichtiger Schleppe, die über eine in der Landschaft ausgelegte Partitur fährt, auf der sie rote Farbspuren hinterlässt. Brieskes Video lenkt den Blick mit verschiedene Perspektiven auf die verletzlichen und improvisierten Aktionen der von Baumann verkörperten Windfigur. Die Klänge des Videos sind weniger hör- als fühlbar: ein sanftes Atmen zur Bebilderung. Städtische Galerie und Kunstmuseum: Doppel-Ausstellung in Paderborn ehrt verstorbenes Künstler-Ehepaar Die &bdquo;Windfigur der hellen Sandwüste“ schließlich ist Trägerin der Erinnerung, Klangspeicher und Echo zugleich. Das Künstlerinnenduo nennt die Figur auch &bdquo;Rillenwandlerin“, die Spuren in den Sahara-Sand zieht, den der Wind seit Jahrhunderten regelmäßig über das Meer nach Boa Vista trägt und auf der Insel einen Sandstreifen gebildet hat. Eine oszillierende Wind-Figur, die sich wendet. Vor dem Drei-Hasen-Fenster dreht sich ein Plattenspieler In Verbindung gesetzt wird sie mit der Figur der Maria Magdalena, die mehrfach umgedeutet wurde. Sie ist in der Bibel die Erste, die nach Jesu Kreuzigung versteht, dass er von den Toten auferstanden und spricht mit ihm. In der Folgezeit wurde sie von den männlichen Autoren verändert und ihr Charakter einer Zeugin mit demjenigen einer letztlich reuigen Sünderin überschrieben. An mehreren Stellen laufen Plattenspieler als Gedächtnisspeicher. Auch vor dem bekannten Drei-Hasen-Fenster: drei Hasen, die sich in alle Ewigkeit drehen, Bild der Dreieinigkeit Gottes. Am anderen Ende dieser Ebene ist die bedeutende mittelalterliche Imad-Madonna: Symbol der Ewigkeit, Ende der Zeit und Überzeitlichkeit. Ist der als Klang durchs Museum ziehende leichte Wind bis hier kaum spürbar - und doch immer da, so herrscht nun: Windstille. Entstanden ist die Ausstellung im Zusammenspiel mit der Kuratorin Christiane Ruhmann vom Diözesanmuseum und der Sammlung des Hauses. Ziel ist es, wie schon bei den vorherigen Ausstellungen mit zeitgenössischer Kunst, neue Perspektiven auf die eigene Sammlung des Museums zu schaffen und dadurch Menschen anzusprechen. Die Ausstellung zeige laut Ruhmann, dass das Museum &bdquo;keine schwachstrahlenden Substanzen im Lager“ habe, die Werke hätten noch etwas zu sagen. Zeitgenössische Interventionen bringen in Paderborn alte Werke zum Sprechen Ruhmann setzt die Video- und Klangarbeiten der beiden Künstlerinnen in eine Beziehung zu Werken aus dem Bestand. So wird gleich zu Beginn die Darstellung der apokalyptischen Frau auf der Mondsichel in einem neuen Zusammenhang erlebbar. Oder am Schluss die bereits erwähnte Imad-Madonna. Entscheidend ist, dass die zeitgenössischen Interventionen die Jahrhunderte alten Werke neu zum Sprechen bringen. Lesen Sie auch: Kunst am Fluss: Paderborn wird erneut Schauplatz für Tatort-Projekt In einer Art Vorstudie zu einer der Windfiguren verbindet Brieske Bildmaterial vom Paderborner Tornado mit den Orten Boa Vista, London und Bonnaire. Abgeschlossen wird die Ausstellung im oberen Bereich zudem durch einen Blick auf weitere Arbeiten des Künstlerinnenkollektivs. Darunter ist &bdquo;Das Raunen der Dinge - zugleich ein Vorgeschmack auf das Finale und den Höhepunkt der Ausstellung. Am 20. und 21. September wird es ein audiovisuelles Konzerterlebnis mit Live-Video, Stimme, Live-Elektronik und Chor geben, das eigens für die Architektur des Diözesanmuseums geschaffen ist. Für die Mädchenkantorei des Paderborner Doms komponiert Baumann Stimmmaterial, das gemeinsam mit dem Leiter der Kantorei, Patrick Cellnik, erarbeitet wird. Die hohen Mädchenstimmen gehen zusammen mit Baumanns immersiver Stimmkunst und Brieskes Videokunst eine Beziehung zu den weiblichen Figuren der Sirenen und zum Klang des Windes ein. Der Besuch der sehr spirituellen Ausstellung, einer sanften Geschichte des Windes, lohnt sich. Dennoch braucht man eins, um alles zu erfassen und aufzunehmen: einen langen Atem.

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