„Wir sitzen alle da und jammern“: Abschlussinterview mit Paderborns Sozialdezernenten

Herr Walter, nach genau 25 Jahren bei der Stadt Paderborn gehen Sie in Ruhestand. Der 22. November wird Ihr letzter Arbeitstag sein. Eigentlich hätten Sie Ihren Arbeitsplatz im D-Turm am Verwaltungsstandort Hoppenhof schon Ende Juni geräumt. Doch die ersten beiden Verfahren zur Nachbesetzung Ihrer Stelle scheiterten. Im ersten Fall konnte sich im Rat nicht auf eine der fachlich offenbar sehr guten Bewerberinnen geeinigt werden. Im zweiten Durchgang zogen die beiden favorisierten Kandidaten ihre Bewerbung zurück. Zum 31. Oktober endete die Bewerbungsfrist für die dritte Besetzungsrunde. Ist es für Sie belastend, dass Sie gehen und Ihr Posten noch immer nicht besetzt ist? Wolfgang Walter: Erst einmal gehe ich mit sehr gemischten Gefühlen – sonst hätte ich auch nicht verlängert. Ich habe die Aufgabe gerne wahrgenommen. Der Abschied fällt mir schon nicht ganz einfach. Und wenn ich jetzt sehe, dass es keine Nachfolge gibt, der man etwas mit auf den Weg geben kann, dann ist das schon eher belastend. Es wäre schon gut, zu wissen, dass das Dezernat in gute Hände kommt. Sie selbst hatten sich 1999 bei der Stadt Paderborn beworben. Ich habe mich damals auf die Jugendamtsleiterstelle beworben, für die ich dann den Zuschlag bekommen habe. Ich kannte den Aufgabenbereich schon etwas, weil ich in meiner Heimatstadt Bamberg jugendpolitisch ziemlich engagiert unterwegs gewesen bin. Ich war stellvertretender Kreisvorsitzender der CSU und über diesen Weg war ich unter anderem lange im Jugendhilfeausschuss. Und knapp zwei Jahre später folgte Ihre Bewerbung auf die Beigeordnetenstelle beworben? Damals gab es ja wohl ein paar Bewerbungen mehr als heute. Wenn ich mich recht erinnere, waren es so 50 Bewerbungen. Das ist eine andere Zeit gewesen. Zu Beginn gehörte zu Ihrem Dezernat neben Jugend, Soziales, Bildung und Sport auch noch Kultur. Das ist so, aber kurz darauf wurden die Dezernate neu zugeschnitten. Kultur hat dann Carsten Venherm übernommen. Mir war es wichtig, dass der Bereich Sport bei mir bleibt, weil Sport und Schule beide überwiegend auf die gleichen Ressourcen zurückgreifen, was die Sportstätten angeht. Das war damals die Überlegung. Lesen Sie auch: Dritter Versuch: Stadt Paderborn sucht weiterhin nach einem Schuldezernenten Sie sind sportlich immer interessiert gewesen. So waren Sie bei den Paderborn Baskets vier Jahre lang Präsident. Macht es Sie traurig, dass der Verein heute nur noch in der dritten Liga spielt? Ja, natürlich. Da blutet das Herz ein bisschen. Nicht nur ein bisschen, das blutet ordentlich. Ja, wir waren damals noch in der ersten Liga und haben Play-offs gespielt. Die unvergessliche Serie gegen Alba Berlin im Frühjahr 2009. Wir haben zu Hause zweimal gegen Alba gewonnen. Der Kader war aber auch teuer mit Spielern wie Chris Ensminger. Ja, das war richtig teuer. Deshalb ging ja auch die finanzielle Misere damals so richtig los. Wir waren nach der Top-Saison noch ein Jahr in der ersten Liga und sind dann abgestiegen. Da ging es dann finanziell so richtig den Bach runter. Am Ende hat Wilfried Finke, das ist gar nicht mehr so im Bewusstsein der Sportwelt, mit seinem finanziellen Engagement den Basketball in Paderborn gerettet. Wir waren ja quasi bankrott. Ich hatte damals angekündigt, dass wir den Insolvenzantrag stellen. Und dann war es am Libori-Sonntag, als Finke mich anrief und fragte, ob wir nicht am Montag – bevor wir zum Amtsgericht gehen – Zeit und Lust hätten, bei ihm vorbeizukommen. Da hat er mehrere Hunderttausend Euro auf den Tisch gelegt – und das über mehrere Spielzeiten. Sie hatten jahrelang in den verschiedenen Ämtern rund 1.000 Mitarbeitende unter sich. Das bedeutet viel Verantwortung – auch für ein hohes Budget. Allein beim Jugendamt sind es aktuell 110 Millionen Euro, da werden es im gesamten Dezernat insgesamt 150 Millionen sein. In den ganzen Jahren als Beigeordneter haben Sie somit eine Milliardensumme verantwortet. Bleiben wir beim Thema Geld. Was die Kita-Beiträge betrifft, so möchte die Stadt Paderborn diese nicht erhöhen und die Eltern nicht mehr zur Kasse beten. Anders als andere Kommunen im Kreis Paderborn. Könnte das noch zu Nachbesserungen innerhalb der Haushaltsberatungen führen? Das könnte noch einmal ein Thema werden. Aber wir hatten als Verwaltung aktuell nicht vor, an dieser Stellschraube auch noch zu drehen. Auch die Signale aus der Politik gehen in diese Richtung. Aber bis zur Verabschiedung im Stadtrat am 19. Dezember kann immer noch etwas passieren. Es ist natürlich eine der wenigen Möglichkeiten, die Einnahmesituation im Jugendhilfebereich zu verbessern. Man muss gucken, wo man überhaupt Möglichkeiten für Verbesserungen hat. In der Regel stehen gesetzliche Rechtsansprüche hinter den Leistungen der Jugendhilfe. Also wenn Probleme in einer Familie auftreten oder ein Kind in Obhut genommen werden muss. Wenn Sie zurückblicken: Wo hat sich Ihr Aufgabengebiet geändert? Von den Themenstellungen her kam in den letzten 20 Jahren im Bereich der Schulen die Ganztagsbetreuung hinzu. Auch die Schulverpflegung gab es vorher nicht – außer in der Gesamtschule Elsen, die schon immer Ganztagsschule war. Und spätestens ab 2015 war das Thema Geflüchtete wieder im Fokus. Es war aber immer da und nie komplett weg. In den 90er-Jahren waren es die Menschen aus dem Kosovo, dann die Russlanddeutschen, also Aus- und Übersiedler in einer richtig großen Anzahl. Danach waren wir eher dabei, die Einrichtungen und Strukturen abzubauen, weil die Unterkünfte leer standen. Dann ging es ab 2015 wieder richtig los. Seitdem beschäftigen wir uns intensiv mit dem Thema – was die Versorgung betrifft, aber auch die Integration von aktuell gut 3.000 Menschen. Und das funktioniert aus meiner Sicht relativ geräuschlos und erfolgreich. Die Zahl der Geflüchteten in der von der Bezirksregierung betriebenen Unterkunft in der Dempsey-Kaserne wird derzeit noch auf Paderborn angerechnet. Zum Jahresende soll diese Einrichtung geschlossen werden. Reichen dann die Kapazitäten der städtischen Unterkünfte? Ja, wir sind vorbereitet und haben Reserven. Wir werden zunächst eine zusätzliche Einrichtung wieder ans Netz bringen, die wir im Stand-by-Modus hatten. In der können wir 80 bis 90 Menschen aufnehmen. Weil wir überdurchschnittlich viele ukrainische Geflüchtete aufnehmen durften, lagen wir aber schon länger über der Aufnahmequote – auch unabhängig von der Dempsey-Kaserne. Es gab in Paderborn schon immer eine recht starke Community der Ukrainer. Und da sie entscheiden konnten, wo sie sich niederlassen, zogen viele hierhin. Lesen Sie auch: Paderborn sucht einen Beigeordneten: Frist für Bewerbungen ist abgelaufen Wie nehmen Sie die Stimmung in den Rats- und Ausschusssitzungen wahr? Hat sich der Ton – auch seit dem Einzug der AfD – geändert? Das fing schon vor der AfD an, hat sich aber schon noch verschärft. Bei Ratssitzungen Anfang der 2000er-Jahre ist man respektvoll miteinander umgegangen, hat sich gesiezt, auch wenn man seit der Schulzeit befreundet war. Heute herrscht hier eine allgemeine Duzerei. Das ist nicht mein Kommunikationsstil. Ich denke immer: Setzt euch doch lieber mit den Inhalten auseinander und empört euch nicht immer über Stil und Wortwahl. Man geht lieber auf verbale Provokationen ein, aber nicht auf das, was inhaltlich dahinter steckt. Man muss sich wieder inhaltlich mit dem politischen Gegner auseinandersetzen – und gerade dann, wenn sie aus extremen Lagern kommen. Anfang der 2000er-Jahre war es auch nach den Sitzungen selbstverständlich, dass über alle Fraktionen hinweg alle in den Ratskeller gehen, um gemeinsam ein Bier zu trinken – selbst wenn es vorher richtig gerumpelt hat. Das war Ausdruck einer gemeinsamen Verantwortung, die man für die Stadt hat. Heute trinken die Fraktionen, wenn überhaupt, ihr Feierabendbier getrennt. Man macht es sich einfach, wenn man Skandal ruft, aber nicht inhaltlich diskutiert. AfD und BSW provozieren halt und haben die Aufmerksamkeit: Das ist die Strategie – und es spielen alle mit. Genau wie bei Trump. Dann läuft es im Rat also genauso wie überall? Ich würde mal sagen, dass es grundsätzlich zugenommen hat, dass auch die Medien immer den Skandal suchen. Und das steuert auch die Grundbefindlichkeiten der Menschen. Wir leben in einem Land, das wirtschaftlich und von den sozialen Strukturen her immer noch richtig gut aufgestellt ist: Hier verhungert keiner und jeder hat weiter eine durchaus gute Zukunftsperspektive – und wir sitzen alle da und jammern. Das wirkt sich auf die Grundstimmung aus. Und die AfD ist da meines Erachtens nicht Schuld, sondern Auswuchs des Ganzen. Politisch sammelt sich diese Unzufriedenheit halt dort oder beim BSW, also an den politischen Rändern. Auch wenn Ihr Arbeitsbereich – Sozialarbeit, Schulen, Jugendhilfe – stark problemorientiert ist. Gab es in den letzten 20 Jahren vielleicht auch positive Überraschungen? Ich bin schon etwas stolz darauf, dass sich Paderborns Kita-Landschaft – nicht nur in der Menge, sondern auch von den Personen – äußerst positiv entwickelt hat in der Fachlichkeit und Professionalität. Eine Erzieherin hat einen ganz anderen Status als eine Kindergärtnerin in den 90er-Jahren: Das sieht man schon an der Begrifflichkeit. Und wenn Sie sehen, was da an Bildungsinhalten vermittelt wird: Das finde ich klasse. Auch im Sportbereich haben wir eine tolle Entwicklung mit den Sportstätten, die in den letzten 20 Jahren entstanden sind und an denen wir beteiligt sind oder sie erstellt haben. Das neue Stadion – ich war koordinierender Projektleiter innerhalb der Verwaltung – war immer ein Wunschtraum. Und wenn alle zusammenwirken, dann funktioniert es. Wäre ein komplett kostenloser Kita-Besuch mit einer vielleicht noch höhren Akzeptanz aus Ihrer Sicht ein Ideal? Wir liegen im Ü-3-Bereich bei 100 Prozent – also mehr Akzeptanz geht eigentlich nicht. Jedes dreijährige Kind in der Stadt hat einen Kitaplatz. Im U-3-Bereich wird sich das ähnlich entwickeln und es entstehen ja auch noch Einrichtungen. Wenn man sagt, dass die Bildungsbiografie eines Kindes mit drei Jahren anfängt, dann wäre es – wie bei Schulen – aber so, dass man dafür nicht noch Elterngebühren einziehen müsste. Doch irgendeiner muss es halt finanzieren. Also die Kommunen schaffen das nicht. Wie sind aktuell ja finanziell auch am Ende. Ab dem 22. November haben Sie mehr Zeit – oder gehören Sie zu den Pensionären, die dann noch mehr Stress haben und ganz viel auf ihrer Agenda haben? Also Rentner haben alles, nur keine Zeit! Aber nein, ich habe keine Agenda. Bernhard Hartmann (Paderborns früherer Kämmerer; Anm. d. Red) und ich versuchen, seit zwei Jahren einen Termin zu finden, um ein Bier zu trinken. Das hat bisher nicht geklappt. Meine Frau und ich haben jetzt seit knapp drei Jahren einen Hund, der braucht in jedem Fall schon mal Betreuung. Welche Rasse? Das ist ein Windhund, ein Whippet. Der muss sich wahrscheinlich viel bewegen? Der ist schnell, aber lange Strecken – etwa Joggen – macht der nicht mit. Der Grundgedanke zum Eintritt in die Rente war, einen Hund als Zwang zu haben, sich noch zu bewegen. Eine rein rationale Überlegung. Dabei hatte ich in meinem ganzen Leben nie was mit Hunden. Ganz im Gegenteil, die waren für mich eher abschreckend. Ich habe gedacht: So ein Hund stinkt und will immer bewegt werden. Da habe ich gegoogelt: fauler Hund, der nicht stinkt. Dann kam unter anderem diese Windhundrasse. Was aber spannend ist und was ich nicht gedacht hätte: Wenn Sie mit einem Hund in der Nachbarschaft spazieren gehen, lernen Sie plötzlich Menschen kennen, die 50 Meter weiter wohnen und an denen Sie Jahrzehnte achtlos vorüber gegangen sind. Und außerdem? Dann haben wir einen relativ großen Garten, in dem ich mich gerne selbst verwirkliche. Seit Sommer habe ich ein Hochbeet und schon viele Kürbisse geerntet und auch gegessen. Ich koche gerne und setze mich wieder gerne ans Klavier. Also ich kriege die Zeit schon rum. Ich brauche jetzt auch nicht unbedingt noch ein Ehrenamt. Und in den Schützenverein eintreten werden Sie auch nicht? Also ich gehe gerne mal zum Schützenfest. Aber so insgesamt ist das nicht meins. Da bin ich eher Franke, da gibt es das bei uns in der Ausprägung wie in Paderborn nicht. Das ist halt nicht meine Welt.

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