Paderborner Experte über das Geschlecht in der Medizin: „Frauenherzen ticken anders“

Paderborn. Gendermedizin schaut auf geschlechtsspezifische Unterschiede von Krankheiten. Das ist wichtig, denn: Das Geschlecht kann bei Entstehung, Verlauf und Behandlung von Krankheiten eine Rolle spielen. So weiß etwa Andreas Schärtl, Chefarzt der Klinik für Kardiologie im Brüderkrankenhaus St. Josef in Paderborn: &bdquo;Frauenherzen ticken anders als Männerherzen“. Welche Rolle spielt das Geschlecht in der Medizin? Lange spielte das Geschlecht in der Medizin nur eine untergeordnete Rolle. Inzwischen ist bekannt, dass es Einfluss hat etwa auf Erbgut, Anatomie, Stoffwechsel, Hormonhaushalt oder auch das Immunsystem. Das habe zur Folge, dass Symptomatik, Diagnostik und Therapie für Männer und Frauen ganz unterschiedlich sein können, erläutert Sabine Oertelt-Prigione, die an der Universität Bielefeld als bundesweit erste Professorin für geschlechtersensible Medizin zu Unterschieden zwischen den Geschlechtern forscht. Lange galt der Mann in der Medizin als Standard – mit fatalen Folgen. Nicht nur Frauen, sondern alle Menschen, die nicht dem Standard des mittelalten, weißen Mannes entsprächen, hätten im Gesundheitssystem Erfahrungen mit Diskriminierung gemacht, sagt Oertelt-Prigione, &bdquo;mindestens insofern, dass sie mit ihren Symptomen nicht ernst genommen wurden“. Neben den biologischen Faktoren spiele auch die Sozialisierung eine Rolle: Welche Stereotype hat ein behandelnder Arzt im Kopf? So würden Beschwerden von Frauen schnell mal als psychosomatisch abgestempelt. &bdquo;Wer in ein bestimmtes Krankheitsbild nicht reinpasst, hat das Risiko einer verspäteten Diagnose“, sagt Oertelt-Prigione. Das gelte auch für Männer etwa mit Osteoporose, Brustkrebs oder anderen vermeintlich typischen Frauen-Krankheiten. Welche Folgen hat es, wenn medizinisch relevante Unterschiede zwischen Frauen und Männern nicht ausreichend berücksichtigt werden? Ein bekanntes Beispiel für Geschlechterunterschiede in Krankheitsbildern ist der Herzinfarkt. &bdquo;Frauen sterben häufiger an Herzproblemen als Männer“, weiß der Paderborner Kardiologe Andreas Schärtl. Sie nehmen Herzbeschwerden oft anders wahr als Männer. &bdquo;Sie erleben nicht so einen vernichtenden Schmerz in der linken Brusthälfte, der in den Arm zieht. Es sind andere Symptome und damit kommen Frauen auch tendenziell später zu uns.“ Oft haben Patientinnen mit einem Herzinfarkt unbestimmte Symptome: etwa Luftnot oder Rücken-, Kiefer- und Bauchschmerzen. Ein weiterer Faktor sei auch das Wahrnehmen der eigenen Schmerzen. &bdquo;Frauen sind härter im Nehmen“, ist Schärtls Eindruck. &bdquo;Frauen müssen ihren Körper und ihre Symptome ernst nehmen und im Zweifel einen Rettungswagen rufen“, betont Schärtl. Das würden Männer tendenziell schneller machen. Klar ist: Im Falle eines Herzinfarkts beginnt ein Rennen gegen die Zeit. Je schneller es zu einer Behandlung kommt, desto besser. Zeit ist in vielen Fällen ein kritischer Faktor. So nennt Oertelt-Prigione als weiteres Beispiel den Darmkrebs: Bei Frauen sitze der Tumor häufig eher links, bei Männern rechts und damit in Nähe des Afters, was schneller zu dem typischen Symptom von Blut im Stuhl führe. So bekommen Männer schneller eine Diagnose und können früher mit einer im Zweifelsfall lebensrettenden Therapie beginnen. Auch bei Parkinson, Alzheimer, Asthma oder Autoimmunerkrankungen äußerten sich Symptome unterschiedlich. Bei Diabetes schlügen bei Frauen nur bestimmte Testverfahren an. Auch Medikamente könnten unterschiedlich, mit mehr Nebenwirkungen oder manchmal auch gar nicht wirken. Sieh dir diesen Beitrag auf Instagram an Ein Beitrag geteilt von Quarks (@quarks.de) Inwiefern wandelt sich das Verständnis um die Bedeutung von Geschlecht in der Medizin? Lange wurden klinische Studien nur an Männern durchgeführt. Das sei zunächst gar nicht in böser Absicht geschehen, sondern in dem Ziel für eine evidenzbasierte Medizin robuste Daten zu erheben, erläutert Oertelt-Prigione. Dazu sollten möglichst viele Variablen konstant gehalten werden – Einflüsse wie ein Zyklus, Wechseljahre oder Schwangerschaften waren hinderlich. Doch durch diesen Gender Data Gap fehlen wichtige Erkenntnisse: Wie äußern sich Krankheiten bei Frauen, wie sind sie zu behandeln, welche Arzneistoffe entfalten welche Wirkung? Auch Andreas Schärtl sieht im Design vieler Studien einen Grund des Problems: Moderne Schulmedizin brauche Studien, doch diese seien oft &bdquo;männerlastig“. In den vergangenen zehn Jahren sei das Thema jedoch ins Bewusstsein gerückt: &bdquo;Es laufen viele Forschungen auf dem Gebiet, da wird Geld reingesteckt.“ Die zunehmende Aufmerksamkeit für geschlechtersensible Medizin beobachtet auch Sabine Oertelt-Prigione. Doch bis Erkenntnisse der Forschung als klare Handlungsempfehlungen ins Studium eingewebt und dann in den Praxisalltag getragen werden, sei es noch ein langer Weg. Wie könnte ein Gesundheitssystem die Unterschiede angemessen berücksichtigen? Wenn man verstehen wolle, warum die Strukturen so sind, wie sie sind, müsse &bdquo;man natürlich fragen: Wer hat unser Gesundheitssystem aufgebaut?“, sagt Oertelt-Prigione. Das waren über Jahrzehnte Männer – in Deutschland durften Frauen erst Anfang des 20. Jahrhunderts überhaupt Medizin studieren. Mit der steigenden Zahl von Frauen, die im Gesundheitswesen arbeiten, habe sich schon einiges im Bewusstsein geändert. Auch Schärtl räumt ein, dass es auf der Seite der Ärzte Nachholbedarf gebe: &bdquo;Frauen werden als Patientinnen oft nicht so ernst genommen wie Männer.“ Daher sei es wichtig, zu sensibilisieren. &bdquo;Wir werden aufmerksamer und wollen auch dem Nachwuchs in der Medizin das Problem bewusst machen“, sagt Schärtl. &bdquo;Der Blick ist mittlerweile geöffnet.“ Patienten in ihrer Individualität zu betrachten, müsse das Ziel sein, plädiert Oertelt-Prigione. Dazu gehörten nicht nur biologische Faktoren wie Geschlecht oder Alter, sondern auch soziale oder ökonomische wie etwa Bildung, Einkommen oder die Wohnsituation. 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