Leben nach dem Tornado in Paderborn: Eine Tour der Erinnerung

Paderborn. Der in der Marienstraße gleich von zwei Bäumen getroffene Bus, das nahezu komplett zerstörte Paderquellgebiet oder die fast komplett fortgerissene Penthouse-Wohnung auf einem Haus an der Riemekestraße: Der Tornado Emmelinde hat am 20. Mai 2022 erhebliche Teile Paderborns verwüstet. Er hat für Bilder gesorgt, an die wir uns noch lange erinnern werden. Am Tag danach bin ich mit dem Rad entlang der Schneise der Zerstörung gefahren, die der Wirbelsturm hinterlassen hat. Genau diese Tour habe ich jetzt wiederholt und dabei auch mit Menschen gesprochen, die mir damals schon von ihrem Schrecken und den entstandenen Schäden erzählt hatten. Der vom Tornado in seine Einzelteile zer- und zusammengelegte Wohnwagen von Marco Grimm und Anne Schmidt an der Damaschkestraße ist auch eines dieser Bilder mit einem hohen Erinnerungswert. Heute steht vor ihrer Tür ein neuer Wohnwagen, mit dem sie erst kürzlich an der Nordsee waren: in Dangast, wohin sie auch vor einem Jahr schon wollten, als der Sturm dazwischen kam – und Aufräumen statt Urlaub. Der Großteil der Schäden an ihrem Haus war im Spätsommer beseitigt. Das Dach wurde repariert, die Fenster an der West- und Südseite erneuert. An der Fassade zeigen sich jedoch noch Spuren, die Emmelinde hinterlassen hat. An zahlreichen Stellen, wo sich durch die Luft gewirbelte Äste in die Wände gebohrt haben, sind noch die provisorischen Ausbesserungen zu sehen. Am Montag soll das Haus eingerüstet werden, dann wird alles wieder fein gemacht und gestrichen. Weiterhin bleiben werden dagegen Reste von Scherben im Holzboden im Wohnzimmer. Versicherungsmakler beruhigt schon am nächsten Morgen Die Schäden an Haus, Autos – eins mit Totalschaden, 25.000 Euro bei einem anderen – und Wohnwagen belaufen sich auf mindestens 100.000 Euro, sagt Grimm. Auch ein Fahrradport neben der Garage war zerstört. Der Versicherungsmakler sei damals gleich am Morgen nach dem Tornado bei ihnen gewesen und sagte: &bdquo;Machen Sie sich keine Sorgen.“ Mit Vorsicht blickt Grimm seit dem Tornado auf Wetterumschwünge und schaut lieber zweimal in die Wetter-App. &bdquo;Die Kinder waren zu Beginn noch sehr schreckhaft, da reichte es schon, wenn ein Flugzeug tief flog“, erzählt das Paar. Auch er habe zum Jahrestag alles im Kopf, sagt Grimm. Wahrscheinlich werde er innerlich darauf anstoßen, &bdquo;dass doch alles gut gegangen ist“. Aus ihrem Garten geht der Blick auf das eingerüstete Haus von Angelika Weidlich und ihrem Sohn Christian, wo ich ebenfalls klingele. Die Fenster seien erneuert und es sei einbruchssicher, sagt Angelika Weidlich. Doch das Dach ist noch immer nicht gemacht. Erst dann könne es auch mit den Arbeiten im Inneren weitergehen, wo sie mir etliche Mängel zeigt. Ein ziemliches Chaos in der Wohnung Der Tornado hatte das Dach komplett angehoben, dann sei es etwas schräg wieder aufgesetzt. Zwischen der linken und rechten Dachhälfte klafft seitdem ein 29 Zentimeter breiter Spalt. An mehreren Stellen, etwa in der Küche oder im Bad, regnet es herein. Zu Weihnachten kam als eine Folge im Schlafzimmer auch noch die Decke runter. All das, was vorher hier drin war, steht jetzt woanders in der Wohnung. Es herrscht ein ziemliches Chaos. Seit dem Tornado ist Angelika Weidlich aber ohnehin nur tagsüber in ihrer Wohnung in der ersten Etage – ihr Sohn bewohnt das Erdgeschoss – und schläft bei einer Freundin. Der Tornado hat sie verändert, erzählt sie mir. Ob Naturkatastrophen oder Krieg, alles nimmt sie nun emotional mit. &bdquo;Man ist so sensibel geworden“, sagt sie. &bdquo;Ich lebe seit über 30 Jahren allein und dachte immer: du bist eine gestandene Frau. Und nun stehen mir die Tränen in den Augen.“ Lesen Sie auch: "Paderborn hat es zerrissen" - Internetvideos zeigen, wie der Tornado wütete In der Zeit nach dem Tornado habe sie aufgrund von Angst und Schweißausbrüchen nur mit entsprechenden Mitteln schlafen können. Mittlerweile gehe es wieder. Angelika Weidlich hat aber einen Wunsch: &bdquo;Es wäre ein echtes Geschenk, wenn ich zu Weihnachten wieder komplett einziehen könnte.“ Noch immer sind Häuser eingerüstet Etwas weiter Richtung Innenstadt sind unter anderem auch in der Friedrich-Ebert-Straße noch Tornado-Spuren sichtbar. Mehrere Gerüste stehen hier, weil etwa noch Fassaden gestrichen werden müssen. Gearbeitet wird auch an dem seit einem Jahr unbewohnbaren Haus ohne Penthouse-Wohnung. Über Stadtbibliothek und Hafenviertel ist der Tornado dann weiter Richtung Osten gezogen. An der Penzlinger Straße hat er Haus und Garten von Elisabeth Coprian und ihrem Mann Wilhelm-Josef Gussen gestreift. Die Schäden am Gebäude waren daher überschaubar, auch das Dach war nach vier Wochen wieder dicht, sagt Gussen. Anders war es mit dem Garten. &bdquo;Es ist mein Elternhaus“, sagt Coprian. &bdquo;Das Grundstück ist schon sehr lange in Familienbesitz und mein Vater hatte schon in den 60er/70er Jahren ein Faible für exotische Pflanzen wie Goldulme, Mammutbaum und Ginkgo.“ All dies war innerhalb weniger Sekunden zerstört. &bdquo;Das Haus sieht wieder okay aus, aber den Garten werden wir so nicht mehr erleben“, sagt sie. Der Schaden wurde auf 30.000 Euro geschätzt. Da das Paar aufgrund des Einbaus einer PV-Anlage eine neue Versicherung abgeschlossen hatte, wurde zumindest ein kleiner Teil davon ersetzt. Ehepaar zieht persönliche Konsequenzen Beide ziehen aus dem Wetterphänomen Tornado und dem Klimawandel persönliche Konsequenzen. Nach dem letzten Flug nach Lanzarote haben sie sich gesagt: Das war es mit dem Fliegen. &bdquo;Eigentlich ist es unsäglich, dass man so etwas erst selbst erleben muss“, sagt Coprian. Und es falle ihr auch nicht leicht, darauf zu verzichten. Doch ohne dies gehe es nicht mit Blick auf den ökologischen Fußabdruck und Verantwortung für die Zukunft. Nachhaltig gelebt haben sie aber schon lange vorher. So haben sie schon 1998 in Holzständerwerkbauweise angebaut und mit Kork gedämmt. Am Dörener Weg bin ich danach bei Nicole Hartmann und Stefan Krämer – mit ihm hatte ich am Morgen nach dem Tornado gesprochen – sowie Sohn Linus in der zweiten Etage. &bdquo;Wie schnell doch so ein Jahr vergeht“, sagt Krämer und blickt zurück: &bdquo;Das Gröbste wurde mithilfe der Nachbarn gemacht, danach hat jeder für sich gewerkelt.“ Die Reparaturen hätten sich hingezogen. &bdquo;Wir haben monatelang in einer Baustelle gelebt“, sagt Hartmann. Das Dach wurde zu Anfang des Jahres fertig, anders als ein Dachfenster und ein Fenster im Treppenhaus. Deshalb warten auch noch Tapete und Farbe auf ihren Einsatz. Die Versicherungen haben alles bezahlt. &bdquo;Zum Leidwesen mussten wir aber in Vorkasse treten, bis wir alles zurückerstattet bekommen haben“, sagen Hartmann und Krämer. &bdquo;Auch von Nachbarn haben sie gehört, dass es sich mit den Versicherungen ganz schön zieht.“ Neue Hütte für betroffene Kita Bei ihnen war der Tornado am Anfang noch ein großes Thema, &bdquo;jetzt aber eigentlich nicht mehr“, sagt Krämer und spricht von einem normalen Umgang mit Sturmwarnungen. Sohn Linus habe aber noch Monate später davon gesprochen und hatte damit zu kämpfen. &bdquo;Das tut mit total leid, dass er das so extrem mitbekommen hat und dass es sich bei ihm eingebrannt hat“, sagt Hartmann. Überhaupt nicht mehr über den Tornado reden wollen die Kinder in der ebenfalls ramponierten Elterninitiative Klingenderstraße. &bdquo;Sie wollen einfach nur in der Kita sein“, sagt die stellvertretende Leiterin Celine Boheme. Dem Erzieher-Team sei der Jahrestag aber bewusst. Nach dem Sturm waren sie zunächst in der Kämper-Baude der Schützen untergebracht und danach bis Ende Oktober im St.-Stephanus-Pfarrheim. Danach ging es zurück ins Gebäude mit einem reparierten Dach. Es gibt auch wieder Ersatz für die zerstörte Hütte im Außenbereich und einen neuen Sandkasten in Form eines Schiffs. Hier liegen auch noch Sturm-Spuren. &bdquo;Bis heute buddeln die Kinder noch Scherben aus“, sagt Boheme. Hilfsbereitschaft bei Mitarbeitenden, Familien und Lieferanten Etwas weiter beim Baumaschinenvermieter Moog im Gewerbegebiet auf dem Dören ist gerade mit dem Wiederaufbau begonnen worden. Das Dach über dem Firmengebäude sowie ein großes Vordach waren vom Sturm verweht worden. Wie William Canney sagt, hätte es aufgrund von Lieferengpässen und wegen des Wetters auch gar nicht früher losgehen können. Am Anfang habe der Tornado für einen großen Schock gesorgt, &bdquo;aber insgesamt haben wir das gut überstanden“, so Canney. &bdquo;Hauptsache, dass keinem etwas passiert ist, Gebäude kann man reparieren.“ Schon am Montag nach dem Tornado habe der Betrieb weitergehen können aufgrund einer riesigen Hilfsbereitschaft von Mitarbeitenden, ihren Familien und auch Lieferanten. Hier endet auch die Spur, die der Tornado vor genau einem Jahr in Paderborn hinterlassen hat. Meine Tour ist ebenfalls vorbei. Eine Tour der Erinnerung und mit Bildern des Wiederaufbaus. Sie hat mir gezeigt, dass zwar viele Baustellen aus dem Stadtbild verschwunden sind. Die Gedanken an einen Tag, der Paderborn nachträglich verändert hat, sind es nicht. Lesen Sie hier alle Artikel zum Tornado-Jahrestag: Bilder im Vergleich: Die Spuren des Sturms im Stadtbild Landrat zum Tornado: &bdquo;Müssen uns auf solche Ereignisse einstellen“ Betriebe spüren die Tornado-Schäden immer noch Langer Wiederaufbau nach kurzer Zerstörung durch Tornado Mammutaufgabe: Wiederaufbau nach dem Tornado Die Katastrophe greifbar machen: Schneidebrettchen aus Tornado-Holz

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