Paderborner bangen um Verwandte - Hilfswillige starten ins Erdbebengebiet

Paderborn. Die Bilder von Menschen, die nach dem Erdbeben an der türkisch-syrischen Grenze aus den Trümmern geborgen werden, gehen um die Welt: "Es ist eine Jahrhundertkatastrophe", sagt Emin Özel, Ehrensprecher beim Rat der Paderborner Muslime, dessen Frau selbst Verwandtschaft in einem der betroffenen Gebiete hat. So groß wie das Entsetzen ist auch die Hilfsbereitschaft in Paderborn: Murat Güven, der ehrenamtlich eine Hilfsorganisation gegründet hat, möchte nun selbst in die Türkei fliegen, um Betroffenen zu helfen - doch der Schnee und die Kälte erschweren das Vorhaben. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO sind etwa 23 Millionen Menschen in Syrien und in der Türkei von der Katastrophe betroffen. Ein schweres Erdbeben der Stärke 7,8 hatte am Montagmorgen die türkisch-syrische Grenzregion getroffen. Zahlreiche Menschen sollen noch unter den Trümmern begraben liegen. Mehrere Länder haben bereits Soforthilfe für die Erdbebenopfer mobilisiert. Insgesamt hat die Naturkatastrophe bislang mehr als 5.000 Menschen das Leben gekostet. Und stündlich werden es mehr. Emin Özel verfolgt die Berichterstattung aus der Türkei vor seinem Fernseher und ist entsetzt. "Ich habe Häuser gesehen, die in sich zusammenfielen und Menschen, die unter Staub und Geröll begraben liegen. Das erschüttert mich tief", sagt er. Özel selbst hat zwar keine Verwandtschaft in der Türkei, aber seine Frau, deren Familie in Diyarbakir in Südostanatolien lebt. Die Stadt gehört zum betroffenen Gebiet: "Diese Menschen haben ihr Zuhause verloren und wohnen momentan in Zelten. Niemand kann aktuell zurück, weil die Gefahr eines Nachbebens zu groß ist", sagt der Paderborner, der Schlimmeres befürchtet. Die Witterungsverhältnisse erschwerten die Situation. Derzeit müssten die Rettungskräfte bei Kälte nach Tausenden Vermissten zwischen Schnee und den Trümmern suchen. "Die Infrastruktur ist zerstört, vor Ort wird sogar darum gebeten, keine Telefonate zu führen, um die Leitungen für Hilfskräfte freizuhalten", berichtet Özel. Paderborner reist in die Türkei Zu denjenigen, die helfen wollen, zählt auch Murat Güven. Der Paderborner hat die gemeinnützige Organisation "Musaid" ins Leben gerufen, die sich für Bedürftige aus der ganzen Welt einsetzt. Seit Montagnachmittag läuft eine Soforthilfe-Aktion. Mehr als 65.000 Euro an Spendengeldern wurden bereits eingenommen (Stand Dienstagnachmittag). Wer weiterhin spenden will, kann sich über www.musaid.de informieren. Laut Güven würde Geld den Menschen vor Ort eher helfen als Sachspenden. Diese würden die Menschen vor Ort durch die zerstörte Infrastruktur ohnehin derzeit nicht erreichen. Doch Güven, der unter anderem schon im syrischen Idlib Häuser für Waisenkinder gebaut hat oder im Jemen an verschiedenen Hilfsaktion beteiligt war, möchte in Kürze selbst in das betroffene Gebiet an der syrisch-türkischen Grenze reisen. Ein gefährliches Unterfangen, denn bis Montag war der Flughafen in Adana wegen Erdbebengefahr gesperrt. Nun geht der Flugbetrieb mit erheblichen Einschränkungen weiter. Das Ziel der Hilfsorganisation ist die Stadt Antakya, die sich in der stark betroffenen Region Hatay befindet. Sie liegt etwa 200 Kilometer vom Flughafen entfernt. Hier wollen Güven und sein Team in einer Großküche bis zu 5.000 Menschen mit warmer Suppe versorgen und Brot an die Betroffenen verteilen, die ihre Existenzgrundlage verloren haben. Angst hat Güven keine, sagt er. "Aber ich habe Gänsehaut, wenn ich an die Verschütteten, vor allem an Babys und Kinder, denke", sagt er. Aufgrund der besonderen Umstände rechnet die Truppe mit einer 20-stündigen Anreise. Auch Recep Alpan, Vorsitzender des Integrationsrats in Paderborn, ist vom Ausmaß der Katastrophe schockiert. "Die Türkei ist eine Erdbebenregion, aber dieses Mal hat diese Naturgewalt zehn Städte erfasst. Das ist größte Katastrophe seit 1939", sagt Alpan, der sich auf das Erdbeben in Erzincan bezieht. Insgesamt 33.000 Menschen waren ums Leben gekommen. Mit Bezug auf den Bürgerkrieg in Syrien spricht Alpan auch beim Erdbeben von "kriegsähnlichen Zuständen". Der Flughafen in Antakya-Hatay sei zweigeteilt, sagt er und bezieht sich auf einen Riss, der sich quer durch die Landebahn zieht, um die Stärke des Bebens zu verdeutlichen: "Alle, die jetzt noch aus den Trümmern geborgen werden, sind Tote." Paderborner Flughafen führt Gespräche Alpan selbst hat keine Verwandten in der Region, aber: "Bekannte und Freunde von mir haben Eltern, Tanten und Onkel oder Geschwister verloren." Auch in Paderborn gebe es Menschen mit Familienangehörigen in der Region. "Die Stimmung in der deutsch-türkischen Gemeinde in Paderborn ist miserabel. Aber auch unabhängig von Religion und Herkunft sind viele Menschen erschüttert über das, was sich in den letzten Stunden zugetragen hat." Zwischen drei- und viertausend Türkinnen und Türken sowie türkeistämmige Menschen leben allein in Paderborn. Für Özel steht fest, dass aus der Katastrophe Lehren gezogen werden müssen. "Der Staat muss sich überlegen, wie er in Zukunft Häuser in den gefährdeten Regionen besser für mögliche Beben wappnen kann", fordert er. Gleichzeitig zeigt er sich gerührt von dem Zusammenhalt, der seiner Meinung nach in den vergangenen Tagen überwältigend war. "Vereine, Einzelpersonen und Organisationen geben alles dafür, um den Menschen vor Ort zu helfen", sagt er. Vom Flughafen Paderborn/Lippstadt heißt es auf "NW"-Anfrage, dass aktuell Gespräche mit regionalen und überregionalen Partnern geführt werden, um mögliche Hilfslieferungen ins Erdbebengebiet zu koordinieren. Der Airport pflegt seit Jahren Kontakte in die Türkei. Urlaubsregionen wie Antalya werden regelmäßig angeflogen, Flugzeuge türkischer Airlines sind Stammgäste am OWL-Drehkreuz. Das Gelände in Ahden bietet viel Raum, um Fracht umzuschlagen. Schlagzeilen machten in der Pandemie die umfangreichen Lieferungen von Masken, die am Airport ankamen, aber auch der Versand von Corona-Schutzmaterial von Paderborn/Lippstadt in Richtung Namibia. Hier kamen jeweils große Frachtflugzeuge zum Einsatz.

Meistgelesen