Paderborner Apotheken-Sprecher zum Medikamentenmangel: "Extrem schlimme Situation"

Herr Hoffmann, vor zwei Monaten nannten Sie uns die Zahl von rund 100 Medikamenten, die nicht lieferbar waren, wie gestaltet sich diese Zahl aktuell? Philipp Hoffmann: Es sind inzwischen über 360, die nicht zu bekommen sind. Das zieht sich durch alle Wirkstoffe. Dramatisch ist es weiterhin bei Fiebersenkern für Kinder, sprich: Zäpfchen, Ibuprofen, Paracetamol und Säfte sind fast nicht zu kriegen. Und das bei einer Erkältungswelle und dem RS-Virus, die durchs Land ziehen. Schlimm ist es im Wochenend-Notdienst, wenn verzweifelte Eltern mit einem stark fiebernden Kind kommen. Man kann aber nur mit den Schultern zucken, weil man nicht helfen kann. Das ist für alle Beteiligten dramatisch und leider ist es momentan gang und gäbe. In einer Situation vor ein paar Tagen, da hatten die Eltern noch Fieber-Saft bekommen. Beim Auspacken ist ihnen die Flasche heruntergefallen und zerbrochen. Die waren fix und fertig, weil danach nichts mehr zu bekommen war. Eine extrem schlimme Situation, wo überlegt wird, ob zwischen den Scherben noch etwas zu retten ist, was natürlich nicht geht. Gibt es Abhilfe, was raten Sie den Eltern? Viele Kollegen versuchen schon selbst Säfte herzustellen, aber das ist sehr kompliziert und die dafür benötigten Substanzen bekommt man auch nicht mehr ohne Weiteres. Da scheitert es dann teilweise an den Behältern oder Dosierspritzen. Immer wieder schildern mir verzweifelte Kollegen aus dem Kreisgebiet Vergleichbares. Tipps wie kalte Wickel geben wir natürlich, aber das sind eigentlich Zusatzempfehlungen, wenn wir die Fieber-Säfte hätten. Manchmal kann man improvisieren, etwa Ibuprofen-Schmelztabletten, die Kinder ab einem gewissen Alter im Mund zergehen lassen können. Für Säuglinge geht das aber nicht, da helfen oft auch nur Zäpfchen. Der Mangel an Medikamenten verschärft aber die Versorgungslage auch andernorts. Meiner Meinung nach ja, denn die Zahl der Kinder, die nicht gut zu Hause versorgt werden können, führt letztlich zu mehr Fällen, die ins Krankenhaus müssen. Die Paderborner Kinderklinik ist ja schon am Limit. Die Krankenhäuser können ja auch nicht einfach Mittel austeilen, wenn sie welches vorrätig haben, sondern können nur die schweren Fälle stationär aufnehmen. Doch die Kapazitäten und das Personal sind knapp. In den Krankenhäusern ist es durch die akuten Fälle nochmals dramatischer, aber auch aus Apothekersicht ist es ähnlich. Als Vater bin ich auch selbst emotional noch mal näher dran. Wie gestaltet sich die Situation bei Medikamenten für Erwachsene oder Krankheitsbilder mit besonderem Risiko? Bei vielen Asthmasprays für den akuten Notfall und auch bei der Dauermedikation, auf die die Patienten eingestellt sind, ist es eng. Wenn es Alternativen gibt, muss die Medikation aber neu eingestellt werden. Ein riesiger Aufwand auch für die Ärzte und keine Optimalversorgung. Bei Schmerzmitteln oder Blutdrucksenkern sind ganz viele Mittel nicht zu bekommen. Dann müssen die Leute eine andere Dosierung erhalten. Statt einer Tablette eine Kapsel, das klingt erst mal nicht problematisch. Wenn aber täglich nur eine halbe Tablette genommen wurde, ist das schlecht, denn die Kapsel ist nicht teilbar. Einige Krebsmedikamenten gibt es derzeit auch nicht mehr. Wenn jemand lange gut eingestellt seine Krebsmedikation bekommt und die ist plötzlich nicht mehr erhältlich, ist das ebenfalls dramatisch. Können Online-Apotheken bessere Verfügbarkeiten bieten? Die haben auch nichts. Manche Anbieter behaupten, sie hätten alles oder könnten in 48 Stunden liefern. Wenn man dann anfragt, gibt es dennoch nichts. Natürlich werden auch die Online-Anbieter Medikamente bekommen, wenn der Großhandel liefern kann. Wenn ich in der Apotheke 50 Fiebersäfte und die Versandapotheke 500 bekommt, ist er innerhalb von zwei Tagen bei beiden wieder vergriffen. Unterm Strich bleibt das Problem. Und das ist nicht neu, unter anderem, weil die Hersteller nur nach Marktlage produzieren. Was könnte nach Ihrer Meinung Abhilfe schaffen? Wir weisen seit Jahren darauf hin. Durch den Kostendruck, den durch ihre Verhandlungstaktik auch die Krankenkassen verursachen, konzentriert sich der Markt. Außerdem wird die Produktion ins Ausland verlagert und die Rohstoffe kommen gar nicht mehr bis nach Deutschland. Das System wird krisenanfälliger, das merkt man immer wieder. In anderen Ländern sieht es anders aus. In Österreich bekommen sie Ibuprofen, so viel sie wollen, in Deutschland nicht. Das Problem ist politisch entstanden und muss politisch gelöst werden. Es ist ja im Gesundheitswesen nicht falsch zu sparen, aber es geht am Ende immer um die Gesundheit der Patienten. Die Diskussion ist ähnlich wie die zur Fallpauschale bei den Ärzten und der Frage, ob man mit der Gesundheit rein wirtschaftlich denken darf. Für den freien Markt ist Gesundheit wohl nicht die geeignete Ware, mit der so gehandelt werden sollte.

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