Für das Gemeinwohl: Wie Paderborner Unternehmen die Wirtschaft neu denken

Paderborn. Menschenwürde, Solidarität und Gerechtigkeit, Ökologie, Transparenz und Mitentscheidung. Das sollten Begriffe nicht nur in Sonntagsreden sein, finden auch viele Firmenlenker - und denken über Reformen im Wirtschaftssystem nach. Manche stoßen dann auf die Bewegung der Gemeinwohl-Ökonomie. Aus Österreich kommend hat sie inzwischen weltweit Wurzeln geschlagen, nachdem 2010, also kurz nach der Finanzkrise, Autor Christian Felber die Grundlagen in einem Buch formulierte. Er traf damit offenbar den Zeitgeist. Inzwischen gibt es allein in Deutschland 100 Regionalgruppen und 800 Gemeinwohl zertifizierte Unternehmen. Auch in Ostwestfalen gibt es inzwischen vier Gruppen: in Paderborn, Bielefeld, Minden und Lippe/Höxter. Die Quintessenz des Modells lautet: Belohnt werden sollten nicht die gierigsten Unternehmen, sondern jene, die am meisten fürs Gemeinwohl tun. Nämlich indem sie in ihrem Handeln auf eben jene fünf Parameter setzen.Vor der Belohnung kommt allerdings die Anstrengung. Deshalb haben inzwischen auch Firmen aus der Region damit angefangen, ihr unternehmerisches Handeln zu durchleuchten. Ziel ist ein "Gemeinwohl-Zertifikat", das nach einem zweijährigen Audit-Prozess in Ostwestfalen-Lippe inzwischen knapp 100 Firmen vorweisen können. Auf dem Weg zum genau 100. Zertifikat ist ein Unternehmen aus Paderborn: die Firma Artist Messebau von Uwe Friebe. Mit dem Jobticket zur Arbeit "Das ist ein sehr schöner Prozess", will Uwe Friebe lieber nicht von Anstrengung sprechen. Gestartet ist Friebe damit im letzten Sommer. Seit November trifft sich eine Gruppe von vier Teilnehmern und einem Coach einmal pro Monat per Video-Call und bespricht einzelne Themen. Außerdem ist Artist Messebau Mitglied in der vor einem Jahr gegründeten Regionalgruppe Paderborn. Die besteht derzeit im Wesentlichen aus dem unmittelbar vor der Zertifizierung stehenden Caritasverband und etwa einem Dutzend Interessierter.Uwe Friebe sagt: "Man lernt dabei schnell, was das Audit mit den Mitarbeitern und dem eigenen Betrieb zu tun hat." Ein großer Teil des CO2-Ausstoßes falle zum Beispiel auf dem Weg der Mitarbeiter zur Firma an. Friebe: "Dann kommt man auf die Idee, ein Jobticket beim Nahverkehrsunternehmen zu beantragen. Und auch an eine Grenze: Dafür müssen nämlich mindestens drei von unseren 15 Mitarbeitern mitmachen. Einer reicht nicht."Zentraler Anknüpfungspunkt im Messebau ist das Thema Müll. Schon bei der Planung achte man deshalb auf Nachhaltigkeit. Brandschutz-Auflagen etwa widersprächen oft der Verwendung nachhaltiger Produkte für Wände, sagt Friebe. Nach einer Messe noch Brauchbares werde aber zum Beispiel über die Plattform Reuse and Trade aus Paderborn weiterverkauft. Messeteppiche würden schon seit Jahren wiederverwertet - und zwar von der Hövelhofer Firma Senne Products. Die macht daraus stylische Taschen - handgenäht in der Region unter dem Label "MAD OWL". Bis zu 50 Prozent der Gewinne spende Carsten Fest, Chef von Senne Products, an soziale Projekte oder an Start-Ups mit dem Schwerpunkt Nachhaltigkeit.Apropos Belohnung. "Das Gemeinwohl-Zertifikat soll der Öffentlichkeit signalisieren: Ist dieses Unternehmen gut für uns? Oder nutzt es nur die Ressourcen der Allgemeinheit aus?", sagt Uwe Friebe. Das sei auch wichtig, um Kunden zu überzeugen, wenn man im Wettbewerb nicht der billigste ist. Andere Belohnungen seien ein guter Ruf und ein gutes Arbeitsklima. Noch wieder andere Vorteile können dagegen nur politisch erreicht werden: Steuer- oder Importerleichterungen oder auch Bonuspunkte bei der Vergabe öffentlicher Aufträge.Angehende Betriebswirte mit von der Partie Dem Thema hat sich auch die Universität Paderborn verschrieben. Dort trat schon 2017 Autor Felber auf Einladung von René Fahr, Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, vor 300 Studierenden auf. Seit 2020 ist Christoph Harrach dort Lehrbeauftrager. Mit einer halben Stelle ist er Gemeinwohl- und Innovationsberater bei der Stiftung Gemeinwohl-Ökonomie NRW mit bisherigem Schwerpunkt im Kreis Höxter.Im Rahmen des Seminars "Angewandte Gemeinwohl-Ökonomie" befähigt er Studierende, für Unternehmen eine Gemeinwohl-Bilanz zu erstellen. Sie begleiten derzeit im Rahmen von Projektarbeiten neben dem Caritasverband Paderborn drei Unternehmen aus dem Kreis Höxter auf dem Weg zur Zertifizierung. "Die beiden Seminare haben insgesamt 20 Teilnehmer", sagt Christoph Harrach. Das Thema stoße auf immer größeres Interesse. Junge Menschen suchten zunehmend Sinnbezüge. Nachhaltigkeit sei zum Business Case geworden, gehöre also dazu, wenn es darum gehe, ob sich Investitionen auch betriebswirtschaftlich lohnen. Sie träfen auf sehr motivierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Unternehmen. Deren größtes Hemmnis sei allerdings die allgemeine Arbeitsbelastung, zu der dann noch der Aufwand von rund 200 Personalstunden pro Begleitung komme.Harrach: "Das sollten natürlich keine Überstunden sein. Die Frage lautet also: Wie schafft man sich Freiräume?" Andererseits fänden Mitarbeiter im Laufe des Prozesses auch auf neue Art zusammen und würden so zu treibenden Faktoren im Prozess. Inzwischen gebe es auch politische Signale für eine Neubesinnung im Wirtschaftsleben. Harrach: "Ab 2024 sind alle Unternehmen in der Europäischen Union mit mehr als 250 Mitarbeitern verpflichtet, einen Nachhaltigkeitsbericht zu veröffentlichen. Das war eine der Kernforderungen der Gemeinwohlökonomie. Ihre Vertreter sitzen in Brüssel immerhin mit am Tisch, wenn neue Standards definiert werden." Auf kommunaler Ebene seien Gemeinden, die sich dazu bekennen, oft allerdings durch übergeordnete Regelungen die Hände gebunden.

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