Philosophin: „Wir sollten die Corona-Situation als Chance begreifen“

Die Corona-Pandemie hat das Leben der Menschen überall auf der Welt auf den Kopf gestellt. Kann die Philosophie hier Sinn und Ordnung bringen? Ruth Hagengruber: Der Dichter Friedrich Hölderlin feiert gerade seinen 250. Geburtstag, und er hat viele philosophische Einsichten in dichterische Worte gefasst. Er sagte: &bdquo;Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch." So einfach ist es sicher nicht. Richtig ist es aber, auch wenn es die Menschen das nur ungern akzeptieren und gerne schwarz-weiß denken. Das gilt auch für diese Pandemie. Was heißt das für unser Handeln? Für alle Probleme gibt es viele Lösungen. Es gilt, neue Möglichkeiten wahrzunehmen und Fähigkeiten zu entwickeln, aus denen wir unsere Zukunft gestalten. Sie ist immer eine Herausforderung. Diese Pandemie ist nicht das Ende. Chemische und biologische Gefahren, die Klimakrise, sie alle werden unsere Welt weiter verändern. Es ist daher wichtig, diese Situation als Chance zu begreifen, unsere Gesellschaft anzupassen und auch umzugestalten. Wie erklärt sich der unterschiedliche Umgang mit der Pandemie in verschiedenen Ländern? Wie in vielen anderen Bereichen sehen wir am Beispiel der Pandemie vergrößert, wie sehr sich verschiedene Werthaltungen in unseren Handlungen manifestieren. Die im anglo-amerikanischen Raum dominante utilitaristische Ethik verfährt nach anderen Prinzipien als unsere, nennen wir sie, kontinentale Werthaltung. Diese hat als ihr höchstes Prinzip, so zu verfahren, dass alle dem gleichen Gesetz unterworfen und keine Vorteile für einzelne Gruppen damit verbunden sind. Im Gegensatz dazu steht die utilitaristische Ethik. Das sieht man sehr schön in den Äußerungen von Trump. Er folgt dem Prinzip des größten Nutzens und sagt, die Kur darf nicht schädlicher sein als die Krankheit. Die Wirtschaft muss in Gang bleiben, unabhängig von denen, die dies das Leben kostet. Er muss sich die Frage gefallen lassen, ob er damit wirklich den größten Nutzen definiert hat. Denn viele, die Angehörige verlieren, sehen es bestimmt anders. Verändert sich durch die Corona-Maßnahmen der Blick auf die Spannung zwischen individueller Freiheit und persönlicher Verantwortung? Einige sagen, wir in Deutschland würden relativ gut durch die Krise kommen, weil wir ein Verständnis dafür haben, dass es eine verbindliche Regelung gibt, an die wir uns halten müssen. Dieser soziale Geist kennzeichnet eigentlich die Europäer allesamt. Wir verhalten uns verantwortlich, weil wir uns ganz selbstverständlich als eine soziale Einheit verstehen. Es soll daher nicht Vorteile oder Nachteile für einzelne Gruppen geben. Die Solidargemeinschaft steht finanziell dafür ein. Wer gegen dieses Solidaritätsprinzip streitet und für den Einzelfall Lösungen, beziehungsweise optimierte Lösungen für bestimmte Gruppen will, folgt eben einer anderen Ethik. Der Sozialstaat macht viele Dinge für alle möglich, weil wir diese relativ starke Verpflichtung zur Solidargemeinschaft haben. Er verlangt ebenso Opfer wie eine Güterabwägung im Einzelfall, die aber oft zu Vorteilen einzelner Gruppen führt. Wie gesagt, andere Länder haben andere Prinzipien. Wie können wir neue Impulse finden, die Gesellschaft positiv zu gestalten? Aus der politischen Debatte wird deutlich, dass hier neue Formen des Diskurses gefragt sind. Wir haben noch nicht darüber debattiert, wie diese Situation, die uns allen einen erheblichen Digitalisierungsschub verpasst hat, auch für unsere Demokratie eingesetzt werden könnte, gerade um sie in der Krise zu stärken. Nun können und sollen wir darüber nachdenken, wie diese Instrumente für einen diversifizierten, gesellschaftlichen Austausch genutzt werden können. Denn wir brauchen für alle Lösungen und Krisen eine aktive Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger. Wie könnte das konkret aussehen? Mir scheint es sinnvoll, dass wir ebenso nachdenken über neue Verwaltungsstrategien, die die Lage vor Ort organisieren. Weil es möglich ist, Ideen, Wünsche und Bedarfe der Einzelnen aufzunehmen, können wir diese integrieren. Die Beteiligung von unten nach oben könnte erheblich gestärkt werden. Das ist eine sehr philosophische Idee, die Hannah Arendt ganz stark gemacht hat und deren Stunde nun genutzt werden könnte. Gibt es noch eine positive Empfehlung? Wir können die Zeit nutzen, um zu philosophieren und kreativ die Welt zu erschaffen. Das interessanteste ist unsere Wirklichkeit. Worüber wir viel intensiver sprechen müssen, sind die kreativen Möglichkeiten, die diese Chance für uns bietet. Woran denken Sie da? Ich bedaure es sehr, dass die Zeit nicht genutzt wird, auch die Schulen und Lehrpläne umzukrempeln. Ich würde den Schülerinnen und Schülern jetzt die doppelte Zeit für kreative Aufgaben geben: Spazieren gehen und Blätter, Käfer und Spinnen sammeln und füttern, Malen, Zeichnen, Gestalten, Musizieren. Ich habe gehört, wie sich eine Lehrerin beschwerte, dass auf den Tablets für die Schulen keine Musikprogramme sind. Noch immer denken viele, dass Wissen von Wissen und Technik von Technik kommt. Philosophisch gesehen ist das ein Fehlschluss! Die besten Ideen entstehen kreativ und setzen sich in Wissen, Technik, Ökonomie und so fort. Was uns alle überleben lässt, ist unsere Kreativität. Davon kann es nicht genug geben und die zu fördern, wurde bislang leider übersehen. Gerade in der Krise wird sie hilfreich sein.

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