
Paderborn. Im Bereich Medizin kennt sie sich aus. Denn Ulrike Junkernheinrich-Claaßen ist Fachkrankenschwester für Intensivpflege und Anästhesie. „Ein künstlicher Darmausgang war mir nicht unbekannt. Aber wenn es einen selbst betrifft, ist das etwas ganz anderes. Das war der größte Schock meines Lebens", erinnert sie sich an den Moment, in dem ihr ein Arzt erklärt, dass sie in Zukunft ein sogenanntes Stoma tragen muss.
Dabei handelt es sich um eine durch eine Operation geschaffene Körperöffnung, durch die ein kleines Stück des Darms oder der Harnleiter nach außen auf die Hautoberfläche ausgeleitet wird. So werden Stuhl oder Urin über diese neue Öffnung aus dem Körper in einen Beutel am Bauch geleitet. Patienten mit künstlichem Darmausgang können so vergleichsweise gut damit leben.
Notwendig geworden war die Operation bei Ulrike Junkernheinrich-Claaßen durch einen Darmkrebs, der kurz zuvor festgestellt wurde. Die Diagnose bekam sie vor zwölf Jahren - damals war sie Ende 30. „Am Anfang fühlte ich mich krank. Ich war kaum leistungsfähig und sehr schnell erschöpft", sagt sie. Sie habe extrem schwankende Verdauungsprobleme gehabt, sechs Wochen vor der Diagnose habe sie nicht mehr sitzen können.
"Verdacht auf hochgradigen Tumorbefall - da habe ich geweint"
Ihr Mann, ebenfalls Mediziner, riet ihr, sich untersuchen zu lassen. „Und wäre er nicht so hartnäckig geblieben, wäre ich wohl gar nicht hingegangen", gibt Junkernheinrich-Claaßen zu. Denn am Morgen des Untersuchungstermins sei plötzlich alles wieder in Ordnung gewesen und sie bereits drauf und dran, den Termin wieder abzusagen. Das hätte beim streuenden Tumor, bei dem schnell gehandelt werden muss, wichtige Zeit kosten können.

Als Junkernheinrich-Claaßen nach der Untersuchung wach wird, ist sie alleine in ihrem Zimmer, ihre Krankenakte liegt in greifbarer Nähe. „Darauf stand ,Verdacht auf hochgradigen Tumorbefall", erinnert sie sich. „Da habe ich geweint." Es folgen eine Operation, in der ihr der Tumor, der Schließmuskel und das Rektum entfernt werden, dazu Strahlen- und Chemotherapie.
„Die Bestrahlung dauerte nur wenige Sekunden, aber das Harte kam erst danach", erklärt Junkernheinrich-Claaßen. Jeden Tag fühlt sie sich schlapper und schlechter und leidet unter Appetitlosigkeit, Erbrechen und Durchfall. Das geht an die körperliche und psychische Substanz, doch zusammen mit ihrem Mann, ihrer Mutter und ihren Freundinnen, mit denen sie immer offen und ehrlich sprechen kann, steht sie diese schwere Zeit durch.
Kann sie nach der OP weiter als Krankenschwester arbeiten?
Heute ist Ulrike Junkernheinrich-Claaßen glücklich, krebsfrei zu sein. Doch eine Sache ist geblieben: der künstliche Darmausgang. Und zu dem hat sie am Anfang zahlreiche Fragen. Die dringendste: „Kann ich mit dem Stoma wieder als Krankenschwester arbeiten?" Denn in den Job will sie schnell wieder zurück. Ihr Arzt habe ihr gesagt, sie dürfe nun nicht mehr als 5 bis 15 Kilo heben und tragen – für sie als Krankenschwester hätte das das Aus bedeutet.
Doch dann wird sie am Flyer-Regal im Krankenhaus auf die ILCO aufmerksam, eine Selbsthilfeorganisation für Stomaträger und Menschen mit Darmkrebs. Sie wählt die angegebene Nummer und ist mit der Stomaträgerin am anderen Ende der Leitung direkt auf einer Wellenlänge. „Auch sie war Krankenschwester und konnte mir die Angst wieder nehmen, die mir im Krankenhaus gemacht wurde", sagt Junkernheinrich-Claaßen, die sich so ihren Alltag zurückerobert. „Menschen mit einem Beutel am Bauch können mit ihren Erfahrungen bei vielen Fragen und Ängsten besser helfen als ein Doktor", sagt sie.
Zum ersten Mal mit Stoma ins Schwimmbad oder Sex haben
In der Selbsthilfegruppe ist sie heute einer der „alten Hasen" und hilft mit ihrer Erfahrung anderen Betroffenen. Sie alle haben Ängste überwinden und viele Situationen zum ersten Mal mit einem Stoma ausprobieren müssen: in den Urlaub fliegen, ins Schwimmbad oder die Sauna gehen, Fahrrad fahren oder Sex haben.
Das alles sind Themen, die sich in einer diskreten, vertrauensvollen Runde leichter ansprechen lassen. „Was in der Gruppe besprochen wird, bleibt auch in der Gruppe", erklärt Junkernheinrich-Claaßen. Jedes Jahr fahren sie zudem zum Spargel-Essen – und das, obwohl das laut vieler Ärzte für Stomaträger wegen seiner fasrigen Struktur ein verbotenes Gemüse ist. „Da passiert nichts, man muss nur gut kauen", sagt Junkernheinrich-Claaßen und grinst.
INFORMATION
- Erster Ansprechpartner für Fragen zu allen Selbsthilfegruppen ist die Selbsthilfe-Kontaktstelle. Dort sind Ute Mertens und Renate Linn montags bis mittwochs von 9.30 bis 13 Uhr und donnerstags von 15 bis 18 Uhr zu erreichen; persönlich, Bleichstraße 39a, unter Tel. (0 52 51) 878 29 60 oder per E-Mail an selbsthilfe-paderborn@paritaet-nrw.org
- Unter selbsthilfe-paderborn.de gibts zudem auch Infos zu Veranstaltungen während der Aktionswoche vom 18. bis 26. Mai.
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