Wie eine Paderbornerin Straßenkindern in Indien ein besseres Leben ermöglicht

Ich kenne diesen Mann seit weniger als einer Stunde – und schon vertraue ich ihm mein Leben an, während ich auf dem Rücksitz seines knatternden Motorrads sitze und mich krampfhaft an Rixons Rücken festhalte. Unzählige gelbe Autos brettern uns entgegen. Lkw rauschen Zentimeter entfernt an mir vorbei; sie hupen gnadenlos. Wir sind auf dem Weg in die Slums – und auf den Straßen Kalkuttas herrscht mal wieder Chaos. Dennoch strahlt mein Vordermann eine Ruhe aus, die mich irgendwie ansteckt. Carlton Rixon hat alles im Griff. Nicht nur am Steuer – wie ich in den nächsten Tagen erleben werde. Und das muss er auch. Viele Menschen setzen große Hoffnung in ihn – und vertrauen ihm ihr ein und alles an: ihre eigenen Kinder. Rixon, 51 Jahre alt, Glatze, knapp 1,90 Meter groß, lebt mit seiner Familie im indischen Kalkutta, einer schmutzigen Metropole mit rund 18 Millionen Einwohnern. Für mich ist er der Türöffner zu einer anderen Welt. Für viele indische Eltern und deren Kinder aber ist er vor allem ein Strohhalm, an dem sie sich mit aller Macht festhalten. Unterstützt wird er bei seinem Projekt von Ella Nölting aus Paderborn. Ich habe die 61-Jährige nach Kalkutta begleitet. Wenn Carlton Rixon nicht wäre, würde sich wohl niemand um diese Menschen kümmern. Denn sie leben auf der Straße, unter Brücken und in Slums. Sie leben vom Betteln, von Tagelöhnen oder krummen Geschäften. Rixon hilft ihnen seit Jahren. Sein Ziel ist es, möglichst viele von ihnen aus dem Sumpf zu ziehen – und ihren Kindern eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Das sieht der gläubige Christ als seine Lebensaufgabe an. Weil er dankbar ist, dass es ihm gut geht. Und weil er davon etwas zurückgeben will. Mir zeigt er, was er damit meint. Kinder ziehen an meinem Shirt und fragen nach Geld Meine Horror-Fahrt auf dem schwarzen Motorrad endet in Kalkuttas Stadtteil Hastings. Dort steigt Rixon ab, um mir den Ort zu zeigen, den er regelmäßig besucht: die Brücke. Sie ist mehrere Kilometer lang und hat vier Spuren. Auf ihr rollen Autos, unter ihr wohnen Menschen. Als ich den Bereich erstmals betrete, schauen mich die Menschen skeptisch an. Mütter halten ihre wenige Wochen alten Babys schützend auf dem Arm, viele wurden von ihren Männern verlassen. Kinder ziehen an meinem Shirt und fragen mich nach Geld. Es ist staubig und heiß. Überall liegt Müll. Die Männer dulden den &bdquo;Weißen mit der Kamera" nur deshalb, weil ich in Begleitung von Rixon komme. Der Familienvater streichelt ein paar Kindern über den Kopf, sie klammern sich an seinen Beinen fest und lachen. Sie kennen und vertrauen ihm. Nicht jeder Besucher im Slum kommt mit guten Absichten. Manchmal kommen Männer, die es auf die Frauen oder Kinder abgesehen haben – häufig im Dunkel der Nacht, erzählt mir Rixon. Menschenhandel sei in Kalkutta noch immer aktuell. Entsprechend misstrauisch sind die Menschen unter der Brücke. Rixon ist einmal pro Woche hier, fährt mit seinem alten Motorrad vor – und erkundigt sich, wie es ihnen geht. Er kocht und isst mit ihnen, bringt Lebensmittel und Medikamente mit. Diese Hilfe ermöglicht es den Menschen, den nächsten Tag zu überstehen. Aber an ihrem Elend ändert das auf lange Sicht nur wenig. Rixon glaubt: Der einzige Ausweg aus dieser Lage ist Bildung. Der Inder baut seit 20 Jahren ein privates Internat nördlich von Kalkutta auf. Dort können die Kinder aus den Slums zur Schule gehen – kostenlos. Ihre Eltern wissen, dass Rixon für ihre Kinder die einzige Chance ist, um dem Alltag aus Dreck, Müll und Hunger zu entkommen. Sie wissen aber auch: Lassen sie sie gehen, geben sie ihre Erziehung und das Wohl ihrer Kinder in die Hände anderer Menschen. Für Jahre. Von ihren Kindern werden sie dann nur noch ein paar Mal im Jahr etwas hören; sie vielleicht mal besuchen. Das Geld für die zweistündige Zugfahrt zum Internat müssten sie lange ansparen. Kinder finanzieren als Bettler Geld die Familien Und noch etwas macht ihre Entscheidung so schwer: Viele der Kinder verdienen bereits in jungen Jahren Geld, um die Familie zu unterstützen: als Bettler am Straßenrand. Somit trennen sich die Eltern gleichzeitig von einer wichtigen Einnahmequelle. Wenn die Kinder nach Jahren die Schule verlassen, sind sie andere Menschen: Gebildet, gut erzogen und gekleidet. Wollen sie dann noch etwas von ihren Eltern unter der Brücke wissen? Rixon weiß, was in den Köpfen vorgeht. Deshalb drängt er sich nicht auf, macht lediglich ein Angebot. Profitiert haben davon seitdem rund 200 Kinder. Doch an einer Stelle kommt Rixons Plan an eine Grenze: Wer bezahlt die Verpflegung der Kinder, das Schulmaterial, den Bau der Schule? Und so kommt meine zweite Begleitung in Indien ins Spiel: Ella Nölting aus Büren im Kreis Paderborn. Die 61-jährige Mutter zweier erwachsener Söhne reist seit 13 Jahren nach Kalkutta, um die Spendengelder persönlich abzugeben – und am Bau des Internats mitzuwirken. Das Geld sammelt sie das ganze Jahr über privat im Freundes- und Bekanntenkreisen im Raum OWL. Sie lernte Rixon 2007 kennen, damals arbeitete sie als Freiwillige in einem der Pflegehäuser von Mutter Teresa in Kalkutta. Es entstand ein enger Kontakt, der bis heute anhält. Die Spendengelder aus OWL sind für das Projekt entscheidend: Je mehr Spenden Nölting sammelt, desto mehr Kinder können sie aus den Slums auf das Internat schicken. Anders gesagt: Die Zukunft hunderter indischer Straßenkinder steht und fällt maßgeblich mit der Hilfsbereitschaft von Menschen aus Ostwestfalen, mehr als 11.000 Kilometer entfernt. "Wir sind den Menschen aus Deutschland unendlich dankbar" Ella Nölting geht sicher, dass jeder Cent ankommt – und trägt vor Ort jede Ausgabe akribisch in eine Tabelle ein. In einem Jahr, so hofft Rixon, will er die Schule für alle Kinder öffnen – und dafür Schulgeld nehmen. Dann trage sich das System irgendwann von allein. Doch bis dahin ist das Projekt abhängig von den Spenden aus OWL. &bdquo;Wir sind den Menschen aus Deutschland unendlich dankbar", sagt mir Rixon. Während ich Ella Nölting begleite, wird mir klar: Auch sie ist viel mehr als eine Spenden-Überbringerin. Sie kauft für die Kinder ein, schiebt Bauprojekte an, verhandelt knallhart mit Baustoff-Lieferanten, verteilt Medikamente. Für viele der Schulkinder ist sie eine Art Patentante. Hier nennt man sie nur liebevoll &bdquo;Aunti Ella". Die Kinder und Jugendlichen leben in der von Mauern umgebenen Schule, am Rande eines kleinen, ruhigen Dorfes und inmitten von Palmen und Reisfeldern. Der jüngste, Moses, ist gerade mal vier Jahre alt. Seine Eltern kennt er nicht, aufgezogen wird er von Rixon, zwei Lehrern und den Schülern. &bdquo;Erst mal", erzählt mir Nölting, &bdquo;müssen die Kinder in das Leben zurückgeholt werden. Auf der Straße haben sie weder gelernt, was Recht, noch was Unrecht ist." In der Schule lernen sie, was es heißt, einen Alltag zu haben: Aufstehen, Frühsport, Schule, kochen, waschen, Pause, drei Mahlzeiten am Tag, Freizeit. Fernseher und Computer kennen sie nur vom Hören. Sie spielen Cricket, toben auf dem Spielplatz oder singen. Sonntags ist Gottesdienst. "Wer in Kalkutta Englisch spricht, findet einen Job" Großen Wert legen Rixon und die Lehrer auf den Englisch-Unterricht. &bdquo;Wer in Kalkutta Englisch spricht, findet einen Job", ist sich Rixon sicher. So wie viele ehemalige Schüler. Rohit, 22, ist heute Manager eines schicken Cafés in Kalkutta, das besonders von ausländischen Kunden besucht wird. Prabhakar, 23, tritt in wenigen Wochen ein Medizin-Studium an. Und Zaffar, 26, arbeitet in einem Microsoft-Büro. Sie alle haben bis vor wenigen Jahren das Internat besucht. Und sie alle stammen aus einfachsten Verhältnissen. &bdquo;Wenn Carlton Rixon und Ella Nölting nicht gewesen wären, hätten wir heute keine feste Arbeit. Wir haben ihnen alles zu verdanken", sagen mir die drei jungen Männer nach einer Partie Cricket auf der großen, trockenen Wiese hinter der Schule. Und ihre Eltern? Den Kontakt zu ihnen haben die meisten Schüler trotz der zwischenzeitlichen Trennung nicht verloren. &bdquo;Sie haben nicht vergessen, wo sie herkommen", sagt Rixon mit festem Blick. Einige der Schüler, die heute junge Erwachsene sind, können mit ihren Jobs ihre Eltern finanzieren. So wie Zaffar, der dafür freiwillig auf ein Studium verzichtet. Und noch etwas haben sie in der Schule gelernt: tiefe Dankbarkeit. Mehrfach im Monat fahren die Ex-Schüler mit Carlton Rixon an den Ort unter die Brücke. Dort, wo alles begann. Dann reden sie mit den Menschen und sprechen ihnen Mut zu. Um zu zeigen: Der Abschied lohnt sich – und er ist nicht für immer.

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