
Bad Oeynhausen. Plötzlich hing an den Bäumen der Räumungsbefehl. Innerhalb kürzester Zeit mussten Bad Oeynhausener Wohnungen und Häuser räumen. „Wir hatten 24 Leute im Haus – und wussten nicht, wohin wir sollten“, erzählt Helmut Thiesmeyer. Letztendlich wurde es eine Baracke auf einem Parkplatz. Der 81-Jährige erinnert sich, dass er damals im Mai 1945 bei der Räumung der Innenstadt vieles an den englischen Besatzern vorbei aus der besetzten Zone geschmuggelt hat.
Das Haus an der Steinstraße/Ecke Weserstraße war voll. Rund 24 Menschen lebten unter dem Dach von Familie Thiesmeyer. Als der Räumungsbefehl kam radelte der Vater von Helmut Thiesmeyer nach Vennebeck. „Er hat es geschafft, sich eine Baracke zu erkungeln“, erinnert sich Thiesmeyer. Und diese Baracke kam auf den kleinen Parkplatz neben der Kohlenhandlung Meier an der Ecke Schulstraße/Arndtstraße. „Eigentlich parkten dort die Pferdefuhrwerke – aber dann haben wir dort gewohnt. 24 Mann in einer Einzimmer-Baracke. Für Wochen.“
Die Baracke hatte die Größe eines Wohn-Esszimmers, die Kochstelle war im benachbarten Kohleschuppen. „Einen Topf aber gab’s nicht.“ Einige Wochen hauste Familie Thiesmeyer in der Baracke, dann gelang es dem Vater für seine fünf Töchter andere Schlafstätten aufzutreiben. „Ungefähr ein drei viertel Jahr haben wir in der Baracke gelebt.“ Nägel hätten an den Wänden als Wandhaken gedient, von den Zügen hätten sie nachts Kohlen geklaut und seien tagsüber oft unter dem Stacheldraht durchgekrochen.
Die wenigen Habseligkeiten, die die Familie – bestehend aus Vater und sechs Kindern – mitnehmen durften, wurden in große Kisten gepackt. „Der Checkpoint war an der Froma Halle, eine Holzbude, eine Art Kiosk“, beschreibt Thiesmeyer. Dort wo heute auf dem Südbahnhofsplatz der Thiermann-Verkauf ist. „Ich habe mir die Kontrolleure ausgeguckt und versucht zu schmuggeln“, erzählt der 81-Jährige. „Das hat manchmal auch geklappt.“
Dann kam der Tag, als der Stacheldraht um wenige Meter verrückt wurde. Das reichte aus, um das Elternhaus von Helmut Thiesmeyer wieder freizugeben. Der Kontrollpunkt wanderte dorthin, wo heute der Kreisel an der Steinstraße ist. „In unserem Haus wurden die Wachsoldaten einquartiert.“ Und die Familie bekam die Genehmigung, ins Obergeschoss zurückzuziehen. „Es war alles leer. Die Bude war ausgeräumt.“
An die Zeit, als die englischen Besatzer, die aus Truppen des Commonwealth bestanden (Engländer, Kanadier oder Neuseeländer), erinnert sich Thiesmeyer gern zurück. „Regelmäßig gab es dort abends Veranstaltungen, die Soldaten brachten uns Käse mit oder Schokolade – das war das Paradies.“ Es sei immer etwas los gewesen im Haus. Vor allem, wenn der Lastwagen mit der Gulaschkanone auf den Hof gefahren sei. „Porridge is here“ habe es dann über den Hof geschallt“, erzählt Helmut Thiesmeyer. Und die Kinder durften sich auch eine Schale Essen abholen. „Das fand ich ganz toll und unheimlich lecker – heute kriege ich es nicht mehr runter“, winkt er lachend ab.
Es seien nette Kerle bei den Wachsoldaten dabei gewesen. So wie „Bob“. Den lernte Thiesmeyers Schwester Ulla damals kennen – und lieben. „Das war für meinen Vater nicht einfach. Wie oft bekam er zuhören, dass seine Tochter den Feind heiratet.“ In der Nissenhütte am Kurpark, die als Kirche diente, heirateten die beiden. Die heute 86-Jährige lebt mit ihrem Ehemann Robert inzwischen in England. „Sie wurde damals, am 30. März 1945, beim Bombenangriff verletzt“, erzählt der 81-Jährige.
„Bei Fliegeralarm haben wir uns immer in die Schweiz geflüchtet.“ Doch als am Karfreitag 1945 die Flugzeuge in Scharen aus dem Süden angeflogen kamen, waren die Kinder beunruhigt und flüchteten durchs Bachbett des Hambkebaches in den Bunker unter der Detmolder Straße. „Dort haben wir gelegen und überlebt.“ Nur die Haushaltshilfe Heidi aus Gohfeld, die ihr Pflichtjahr bei Thiesmeyers absolvierte, und seine Schwester waren Nachzügler. „Sie mussten sich noch den Notkoffer schnappen und waren etwas später als wir in der Schweiz.“ Zu spät. Die junge Heidi überlebte den Angriff nicht und Thiesmeyers Schwester lebt noch heute mit den Granatsplittern im Fuß. „Als wir zurückkamen, hatten wir ein Haus ohne Dach, die Fenster lagen auf der Steinstraße.
Nur wenige Tage später zogen die Amerikaner in der Kurstadt ein. „Drei Tage lang stand hier auf der Weserstraße Panzer an Panzer, Lastwagen an Lastwagen.“ Helmut Thiesmeyers Vater bekam Panik und schickte seine fünf Töchter ins Versteck. Vor der Tür standen amerikanische Soldaten. Sie suchten einen Schlafplatz für die Nacht. „Mein Vater hat es geschafft, sie abzuwimmeln.“
Mehr als 50 Jahre sei sein Vater inzwischen tot. Doch Helmut Thiesmeyer zieht noch immer seinen Hut: „Mit sechs Kindern, ohne Mutter, das war eine verdammt schlimme Zeit.“
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