Mindenerin kämpft für mehr Lebensqualität - Krankenkasse zahlt medizinischen Anzug nicht

Minden. &bdquo;Ich bin schon mein ganzes Leben so.“ Nathalie Kregeler sitzt am Esszimmer-Tisch in der Wohnung in Minden, in der sie mit ihrer Mutter lebt. Ihr Rollator steht neben ihr, der Rollstuhl steht einsatzbereit im Flur. Ohne die beiden Hilfsmittel könne sie sich nicht vorwärts bewegen, sagt sie. Die 26-Jährige ist mit einer rechtsseitigen Zerebralparese geboren, das heißt, sie hat Bewegungsstörungen hauptsächlich auf der rechten Körperseite. Dazu gehören Spastiken (erhöhte Muskelspannung), unwillkürliche Bewegungen und Koordinationsprobleme. &bdquo;Es gibt ganz wenig, was ich alleine machen kann“, erklärt die Mindenerin. &bdquo;Die Muskeln machen einfach zu.“ Die Spastik beeinflusse ihr ganzes Leben. Doch sie kämpft - in der Schule, während der Physio und gegen die Krankenkasse. Ihr Ziel: eine Ausbildung - am liebsten als Mediengestalterin - , alleine wohnen und selbstständig aus dem Haus gehen zu können. Das ist ambitioniert, das weiß sie, aber seitdem sie die Möglichkeit gehabt hatte, den Exopulse Mollii Suit zu testen, habe sie wieder Hoffnung gespürt. &bdquo;Die eine Woche, in der ich ihn hatte, hat so gut wie alles verändert“, sagt sie. Das Problem: Der Anzug kostet knapp 10.000 Euro. Geld, das die Mindenerin nicht hat - und die Krankenkasse übernimmt die Kosten nicht. Lesen sie auch: Krankenkasse verweigert Krebspatient aus Lübbecke Kostenübernahme für Medikament Anzug behandelt Spastiken und lindert Schmerzen Der Expulse Mollii Suit ist ein Ganzkörper-Neuromodulationsanzug des Prothesenherstellers Ottobock, den es in verschiedenen Größen gibt. Er besteht aus einer Jacke und einer Hose. Knapp 60 eingebaute Elektroden geben während des Tragens elektronische Impulse ab. Dadurch werden sowohl verspannte, spastische Muskeln stimuliert und entspannt als auch geschwächte Muskeln beansprucht. Spastiken und Schmerzen, die durch neurologische Störungen hervorgerufen werden, können so behandelt und gelindert werden, verspricht der Hersteller auf der Internetseite. &bdquo;Ich konnte plötzlich einige Schritte ohne Gehhilfe laufen. Ich hatte zum ersten Mal seit Langem keine Schmerzen. Ich konnte endlich tiefer und ruhiger schlafen und meine Spastiken waren spürbar reduziert“, resümiert Kregeler ihre Testwoche mit dem medizinischen Anzug. Sie trug den Anzug einmal am Tag für eine Stunde und verspürte eine deutliche Verbesserung, die auch noch wenige Tage nachwirkte, erinnert sie sich. &bdquo;Der Mollii Suit würde mir helfen, im Alltag mobiler zu werden, mehr Lebensqualität zu gewinnen“, ist sich die 26-Jährige sicher. Medizinischer Anzug wurde bisher noch nicht bewertet Die Testwoche war im Januar 2024. Das Sanitätshaus, in dem Kregeler Stammkundin ist, hatte ihr den Vorschlag unterbreitet. &bdquo;Ich hatte da noch nicht viel erwartet und war selbst überrascht, dass es so gut funktionierte“, so die Mindenerin. Nach der Testwoche stellten sie und ihre Mutter einen Antrag für die Kostenübernahme bei der Krankenkasse IKK classic - ohne Erfolg. &bdquo;Es gibt noch keine Hilfsmittelnummer“, erklärt Mutter Anja Kregeler die Absage. Das bedeutet, dass der Mollii Suit noch nicht standardmäßig im Hilfsmittelverzeichnis der Gesetzlichen Krankenkassen verzeichnet ist. Auf Nachfrage des Mindener Tageblatts bei der Krankenkasse erläutert IKK-Sprecherin Viktoria Durnberger, warum das so ist: &bdquo;Der Exopulse Mollii Suit ist ein neuartiges Hilfsmittel, das in Verbindung mit einer Neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethode (NUB) eingesetzt wird.“ Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), das höchste Gremium der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen Deutschlands, prüfe anhand medizinischer Studien, ob die Anforderungen hinsichtlich der Qualität, dem therapeutischen Nutzen und der Wirtschaftlichkeit für eine Aufnahme neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen erfüllt seien. &bdquo;Die Anwendung des Exopulse Mollii Suit wurde bisher seitens des G-BA nicht bewertet.“ Und deshalb sei die Kostenübernahme durch gesetzliche Krankenkassen nicht möglich, so Durnberger. Auch interessant: Werden Kranke bald einige Fahrten des Rettungswagens selbst zahlen müssen? Testwoche mit medizinischem Anzug kostet 350 Euro Mutter und Tochter hatten Einspruch eingelegt, aber auch der führte zu nichts. &bdquo;Es ist immer ein Kampf mit der Krankenkasse“, berichtet Mutter Anja Kregeler. Sei es der Rollator oder der neue Rollstuhl gewesen - jedes Mal, hätte sie mehrfach mit der Krankenkasse telefonieren und zahlreiche Dokumente besorgen und einreichen müssen. Bei dem Mollii Suit glaubt sie nach fast zwei Jahren nicht mehr dran, dass sie ihn für ihre Tochter bezahlt bekommt. Auch eine weitere Testzeit sei abgelehnt worden. Eine Woche mit dem medizinischen Anzug kostete damals 350 Euro. &bdquo;Das ist jetzt sogar noch teurer“, weiß Kregeler. Aber auch wenn ein Testzeitraum genehmigt werden würde, wäre es nur für kurze Zeit. Nathalie brauche den Anzug dauerhaft, sagt sie. &bdquo;Ich würde nicht sagen, dass es mir ohne schlecht geht“, wirft die 26-Jährige ein. Aber was für andere als selbstverständlich gilt, zum Beispiel aufstehen und in die Küche zu gehen, stellt für sie eine Herausforderung dar. &bdquo;Es ist schön, wenn man es kann, ohne vorher darüber nachdenken zu müssen, kriegt mein Körper das jetzt hin?“ Spendenaufruf für 26-jährige Mindenerin In der Testwoche mit dem Suit hätte sie ein stärkeres Gefühl der Kontrolle gespürt. &bdquo;Zum Beispiel musste ich das Besteck nicht immer wieder wechseln.“ Sie konnte auch die rechte Hand so weit steuern, um damit das Messer zu halten, erklärt sie. &bdquo;Ich bin der Meinung, sie braucht den Mollii Suit zum Leben“, ergänzt ihre Mutter. Sie hätte lange mit sich gerungen, bis sie die Entscheidung traf, einen Aufruf über Gofundme zu machen. &bdquo;Geld von Fremden zu nehmen, ist nicht so mein Ding“, erklärt Nathalie Kregeler, aber sie hätte sich sonst nicht mehr zu helfen gewusst. Beide seien dankbar über jeden Cent. Und wenn nicht die ganze Summe zusammenkommt? &bdquo;Dann kaufen wir den Mollii Suit trotzdem. Irgendwie kriegen wir das hin“, so ihre Mutter Anja. Während und kurz nach der Testwoche mit dem Mollii Suit habe auch die Physiotherapeutin Jana Koop eine deutliche Verbesserung bei ihrer Patientin feststellen können. Nathalies Körperspannung sei größer gewesen und dort, wo sie sonst wegen ihrer Spastik in der Bewegung gehemmt gewesen war, hätte sie sich viel sicherer gefühlt. Beide Körperhälften hätten besser funktioniert. Sieh dir diesen Beitrag auf Instagram an Ein Beitrag geteilt von Nathalie (@nathaliekregeler1998) Gutachter-Streit: Krankenkasse verweigert behindertem Kind aus Minden-Lübbecke ein Therapie-Dreirad Physiotherapeutin von Mollii Suit überzeugt &bdquo;Als sie mit dem Mollii Suit ihre ersten eigenständigen Schritte in der Praxis machte, hatten wir alle Tränen in den Augen“, erinnert sich Koop. Die Physiotherapeutin unterstützt Kregeler seit etwa vier Jahren bei der Arbeit an ihren motorischen Fähigkeiten. Einmal die Woche für eine Stunde ist die 26-Jährige bei ihr in der Praxis Physiokonzept AJ in Minden. &bdquo;Nathalie hat bereits große Fortschritte gemacht“, erklärt Koop. Das Ziel aller sei es, ihr die größtmögliche Eigenständigkeit zu ermöglichen. Auch in der Physiotherapie nutze man schon lange elektronische Geräte in ähnlicher Form. Autonormalverbraucher können sich die Nutzung des Mollii Suits ähnlich wie bei einem bei einem EMS-Training vorstellen. Die elektrische Muskelstimulation wird bereits seit Längerem im Sportbereich für das Ganzkörpertraining genutzt, führt die Physiotherapeutin als Beispiel an. Da trägt man ebenfalls einen Anzug, bei dem Elektroden elektrische Impulse an den Körper leiten, um die Muskeln zu stimulieren. Nicht nur die Muskeln werden durch die kleinen Stromstöße trainiert, auch das Nervensystem lerne dadurch. Der Anzug hätte Nathalie Sicherheit gegeben, er hätte ihr geholfen, Ängste während der Krankengymnastik zu überwinden. Könnte Nathalie den Anzug dauerhaft nutzen, würde sich ihre Lebensqualität verbessern, ist sich Koop sicher. Der Mollii Suit wäre nicht nur eine Hilfe für sie, auch ihre Familie könnte entlastet werden. Fast jeder Patient muss auf Hilfsmittel drängen Nathalie Kregeler sei ihre erste Patientin gewesen, die den Anzug getestet hatte, danach hätte es aber noch mehr Probanden gegeben. Der Effekt sei bei allen unterschiedlich gut ausgefallen, gibt sie zu, das läge aber auch daran, dass sie alle verschiedene Krankheitsbilder hatten. Wenn der Mollii Suit so hilfreich ist, wieso sperren sich die Krankenkassen dann so? &bdquo;Das Problem ist, dass es für das Gerät noch keine Hilfsmittelnummer gibt“, erklärt Koop. Und die Sache, ob es die überhaupt irgendwann geben werde, sei fraglich. Die Hilfsmittelversorgung werde immer schwerer. Koop ist seit Mai 2023 selbstständig und hat sich als Bobath-Therapeutin für Kinder und Erwachsene spezialisiert. Die Bobath-Therapie ist eine auf neurophysiologischen Grundlagen basierende Behandlungsmethode, die sich auf die Rehabilitation von Patienten mit Schädigungen des zentralen Nervensystems konzentriert. Ihrer Erfahrung nach, musste so gut wie jeder ihrer Patienten bislang auf ein Hilfsmittel, wie beispielsweise einen Rollstuhl oder einen Rollator, drängen. &bdquo;Die Anträge werden nicht immer, aber häufig, in der ersten Instanz abgelehnt“, weiß sie. &bdquo;Wir schreiben Berichte, Ärzte schicken ihre Berichte hin, warum ihre Patienten das brauchen - und trotzdem ist es immer wieder ein Kampf“, sagt sie. Für medizinische Hilfsmittel: Apotheker kritisieren neue Preis-Regelung von Krankenkasse Viele Probleme bei Inklusion und mit Diskriminierung Doch das hat Nathalie Kregeler noch nie abgeschreckt. Ihr starker Wille habe sie bereits durch verschiedene Lebenslagen gebracht. &bdquo;Als sie 13 war, hat ein Arzt zu mir gesagt, dass sie nie einen Hauptschulabschluss machen wird“, erzählt Mutter Anja Kregeler. Das war an einer Gesamtschule in Minden. Nachdem sie dann 2020 ans Weserkolleg gewechselt war, machte sie dort ihren Realabschluss und letztes Jahr ihr Fachabitur. &bdquo;Ich musste drei Jahre auf den Platz am Weserkolleg warten“, ergänzt Tochter Nathalie. Es hätte zu der Zeit nur einen Platz für einen Schüler mit Rollstuhl gegeben - und der sei besetzt gewesen. Ihre Tochter habe schon viele Probleme bei der Inklusion in den Schulen gehabt und auch viel Diskriminierung erfahren, so Anja Kregeler, aber aufgeben sei keine Option.

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