Europawahl: „Wer denkt beim Gehlenbecker Moor schon an die EU?“

Lübbecke-Stockhausen. Am Sonntag, 9. Juni, ist Europawahl. Das Wahlalter wurde erstmals auf 16 Jahre gesenkt. Im Gespräch mit der NW berichten jetzt Mitglieder des Vereins &bdquo;Stockhausen für Europa“ was Europa für sie bedeutet. Interessieren sich Stockhauser und Lübbecker Jugendliche überhaupt für Europathemen? Christoph Köster: Die jungen Leute kennen allerdings nur dieses Europa, ohne Grenzen, reisen, wohin man will und Krieg kennt man nur aus dem Geschichtsunterricht. Das ist der Alltag, Europa ist für die jungen Leute selbstverständlich. Klassenreisen, Schulpartnerschaften, der Urlaub mit der Familie. Probleme? Bisher doch nicht. Und da sehe ich uns als Verein in der Pflicht, auf Europa aufmerksam zu machen. Ich bin noch jung, ich habe nicht miterlebt, wie sich die Europäische Union gebildet hat. Aber ich sehe jetzt in die Welt und ich sehe die politischen Strömungen und Systeme, die auf dem Vormarsch sind. Und da ist es meine Überzeugung, als überzeugter Demokrat und Europäer für die Demokratie zu werben. Friedhelm Heckemeyer: Ich habe festgestellt, dass das Interesse am Thema Europäische Union häufig einen Anstoß braucht. Das kann die Schule sein, die etwa an einem Projekttag europäische Themen bearbeitet. Das Elternhaus spielt natürlich eine besondere Rolle. Ein 17-jähriger Erstwähler berichtet zum Beispiel, dass es für ihn selbstverständlich sei, am 9. Juni zur Wahl zu gehen. Seine Eltern seien selbst politisch aktiv und da sei Wählengehen in der Familie einfach eine demokratische Pflicht. 2019 lag die Wahlbeteiligung bundesweit bei mäßigen 60 Prozent. Welche Rolle spielt dabei, dass ich keine Kandidaten wählen kann, sondern nur die Wahllisten von Parteien? Heckemeyer: Richtig ist, Brüssel ist nicht Berlin. Das europäische Wahlsystem ist kompliziert, aber demokratisch legitimiert. Die zur Wahl aufgestellten Kandidaten der nationalen Parteien repräsentieren immerhin um die 850.000 Einwohner pro Mandat, wenn sie dann gewählt sind. Und schließlich sind es 99 deutsche Abgeordnete, die in insgesamt sieben Fraktionen ihrer Parteienfamilien im EU-Parlament sitzen. Das mag für Bürgerinnen und Bürger zunächst einmal Distanz schaffen. Wenn also eine Persönlichkeitswahl nur bedingt greift, was ist dann wichtig? Information! Information zu den europapolitischen Zielen der Parteien. Antworten auf meine Fragen, zum Beispiel nach der europäischen Sicherheitspolitik oder nach einer humanen Flüchtlingspolitik. Hier liegt die große Verantwortung der Wählerinnen und Wähler, sich selbst klug zu machen und auf der anderen Seite die der Parteien, die ihre Wahlprogramme glaubwürdig vermitteln müssen. Aufgrund des Vereinsengagements erreichte Stockhausen 2019 erstaunliche 74,5 Prozent Wahlbeteiligung. Wie viel streben Sie dieses Mal an? Köster: Oh je, wir haben uns kein Ziel gesetzt, schon lange wollen wir das Stockhauser Ergebnis von 2019 nicht toppen. Das war ein einmaliges, großartiges Ereignis, von dem der damalige Initiator Gerd H. Niemeyer zu recht von einem &bdquo;Fest der Demokratie“ gesprochen hat. Unser Ziel heute lässt sich eher so umschreiben: Wir wollen viele Menschen an ihre Verantwortung als europäische Wahlbürgerinnen und Wahlbürger erinnern und sie informieren, andere wollen wir durch unsere Präsenz auch indirekt ansprechen und so das Thema Europa ins Bewusstsein rufen. Natürlich wünschen wir uns, dass unsere Arbeit einen Einfluss auf die lokale Wahlbeteiligung am 9. Juni haben möge, auch wenn das so nicht messbar ist. Vor fünf Jahren hatten Sie prominente Unterstützung durch Europaparlamentarier Elmar Brok (CDU), den ehemaligen EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz (SPD) sowie den Bundestagsabgeordneten Achim Post (SPD). Und dieses Mal? Köster: Ich habe das vorhin schon angedeutet. Dieses großartige Ereignis von 2019 ist nicht wiederholbar. Die Klänge von Beethovens Neunte über den Dächern, Wiesen und Feldern Stockhausens – das war einmalig. Wir stehen weiterhin in Kontakt mit unseren prominenten Unterstützerinnen und Unterstützern. Und immer, wenn wir miteinander sprechen, spiegelt man uns wider, was wir für einen großartigen Beitrag zur Demokratie leisten. 2022 gab es den Diskussionsabend mit Politikern zum russischen Überfall auf die Ukraine. Elmar Brok war übrigens wieder dabei. Dann waren da die Veranstaltungen zu europäischen Themen mit Wissenschaftlern und deren politik- oder finanzwissenschaftlicher Expertise. Für uns bedeutet das heute, 2024, mit geringerem Aufwand die gleichen Ziele zu verfolgen. Das heißt, die Europäische Union immer wieder zum Thema machen und kritisch begleiten. Unter dem Motto &bdquo;Europa fängt vor meiner Haustür an“ haben die Stockhauser 2019 den Bürgerpreis der PSD-Bank erhalten. Wo konkret stoßen die Bürger im Lübbecker Land denn auf Europa, wenn sie vor ihre Haustür treten? Heckemeyer: Es geht nicht um Stockhausen allein. Der Verein ist eine Stockhauser Initiative, ja, aber wir wollen Menschen in der gesamten Stadt Lübbecke ansprechen und darüber hinaus. Dann zu der Frage. An dem Motto selbst hat sich nichts geändert. Vielleicht muss man seine Bedeutung zurechtrücken. Die vielen von der EU geförderten Projekte sind nicht immer auf den ersten Blick erkennbar. Wer denkt schon bei einer herbstlichen Wanderung durch das Gehlenbecker Moor an den europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE), der die Renaturierung von Moorflächen europaweit fördert? Allein für das Erasmus-Programm für Studierende und Auszubildende sind für 2021 bis 2027 europaweit 26,2 Milliarden Euro angesetzt. Und dann der Fonds für die Entwicklung des ländlichen Raumes etc.. Köster: Das Gehlenbecker Moor als Beispiel liegt ja vor unserer Haustür. Bei uns im Lübbecker Land ansässige Unternehmen profitieren vom freien Zugang zu einem Binnenmarkt mit 450 Millionen Einwohnern! Wenn ich in ein Land der EU reise, kann ich mir meiner Rechte sicher sein. Ich kann studieren, arbeiten in jedem Land der EU, ich kann mich geschäftlich betätigen. Ich selbst kenne das aus meiner Jugendzeit. Ich war häufig mit meiner Fußballmannschaft auf internationalen Turnieren oder habe unsere Partnerstädte besucht. Und wenn ich in meinen Freundes- und Bekanntenkreis schaue, gibt’s etliche, die ein Auslandssemester gemacht haben. Und das lief über Erasmus. Ihr Verein sagt, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, wirtschaftliche Prosperität, Solidarität und Frieden seien Werte, für die man eintreten müsse. Allein mit der Stimmabgabe ist es aber doch nicht getan. Was sollte jeder von uns darüber hinaus tun? Heckemeyer: In einer lebendigen Demokratie leben, verlangt mehr als alle vier bzw. fünf Jahre zur Wahl zu gehen. Ich bin zwar nicht der Auffassung, dass die demokratische Grundordnung bei uns akut gefährdet ist. Aber es gibt populistische Tendenzen, die auf die Themen in unserer globalisierten Welt die nationalstaatlichen Rezepte von gestern haben und das hört sich so herrlich einfach an. Die völkischen und nationalistischen Töne sind unüberhörbar. Deswegen müssen wir wählen. Der politische Einfluss der &bdquo;Fraktion Identität & Demokratie“ im Brüsseler Parlament, zu der auch die AfD gehört, darf nicht größer werden. Demokraten müssen zusammenstehen, hier die Grenze ziehen. Gegen solche politischen Tendenzen müssen wir auf die Straße gehen, öffentlich sprechen. Köster: Wir haben es Anfang des Jahres doch gesehen und sehen es immer noch. Im Januar sind Zehntausende auf die Straße gegangen, um für unsere Demokratie Flagge zu zeigen. Und das macht mir Mut. Am 26. Mai hat ihr Verein sich in Stockhausen präsentiert. Am 1. Juni kommen Sie nach Lübbecke. Was genau ist geplant? Köster: Wie bereits am 5. Mai in der Lübbecker Innenstadt werden wir wieder einen Stand einrichten, der an den europäischen Symbolen zu erkennen sein wird. Wir sprechen die Passanten an, bieten Informationsmaterial und für Kinder Europa-Puzzle, Handkarten und Karten zum Beschriften, Handfähnchen werden verteilt. Also, aufmerksam machen, überzeugen, erinnern. Und den Wahltag 9. Juni, wie werden Sie beide den verbringen? Köster: Für mich persönlich kann ich noch nicht sagen, ob ich noch arbeiten muss. Spannend wird es erst, wenn die Wahlergebnisse nach dem 6. bis 9. für die gesamte Europäische Union feststehen und sich die Fraktionen im EU-Parlament bilden. Natürlich sind die Ergebnisse hier vor Ort von besonderem Interesse und ein ganz klein wenig schielen wir auch auf die Ergebnisse von 2019. Heckemeyer: Meine Frau und ich werden den Nachmittag wohl auf Wanderwegen im Wiehengebirge zwischen Obermehnen und Obernfelde verbringen, den Abend mit Sicherheit vor dem Fernseher.

Meistgelesen