Immer mehr Gewalt in der Kita - auch im Kreis Minden-Lübbecke?

Lübbecker Land. "Gewalt in Kitas: Zahl der Meldungen steigt stark an" - meldete Mitte Dezember der Bayerische Rundfunk (BR). Dazu die Information, Gewalt in Kindertagesstätten sei ein Tabuthema. Derzeit müssten alle Kitas im Freistaat ein Schutzkonzept erstellen, das unter anderem möglichen Übergriffen durch Kita-Personal vorbeugen solle. Wie relevant das Thema ist, zeigten die Umfrageergebnisse von BR Recherche. Das Problem beschränkt sich jedoch nicht auf Bayern. Auch in Nordrhein-Westfalen nimmt die Gewalt in Kitas deutlich zu, berichtete Mitte Januar nw.de. Und weiter: "Teilweise haben sich die Zahlen bei den Landesjugendämtern verdreifacht. Experten sehen darin nur die Spitze des Eisbergs und brandmarken politisches Versagen." Ganz so dramatisch formuliert Diana Bruguet, Kita-Fachberaterin beim Kirchenkreis Lübbecke, die Situation nicht. Gleichwohl habe nw.de die Lage zutreffend beschrieben. Nestbeschmutzung und Verrat In Westfalen-Lippe sind demzufolge zwar weniger Fälle erfasst als in anderen Teilen von NRW. Doch auch hier beobachten die zuständigen Landesjugendämter starke Anstiege. Bei "unangemessenem Erziehungsverhalten" etwa verdoppelten sich die Meldungen nahezu: von 33 im Jahr 2019 auf 62 im Jahr 2021. Die Fälle körperlicher Züchtigung stiegen von 22 auf 54, Meldungen über sexuelle Übergriffe von 16 auf 29. Sprecher der Landesjugendämter führen den Anstieg auf eine erhöhte Sensibilisierung bei Eltern, Erziehern und Trägern zurück. Dies habe auch mit einer 2020 durchgeführten Gewaltschutz-Kampagne der beiden Ämter zu tun. Die Vorsitzende des Kinderschutzbundes NRW, Gaby Flösser, erhebt schwere Vorwürfe: Die vorliegenden Zahlen seien allenfalls die Spitze des Eisbergs. Nach wie vor gelte es in den Einrichtungen als "Nestbeschmutzung und Verrat", wenn man solche Vorfälle melde. Die Schuld nur beim Personal zu suchen, hält sie für falsch. Die Situation zeige deutlich, wie sich Personalmangel und Überforderung niederschlagen. Flösser spricht von politischem Versagen, weil sich niemand um die desaströse Lage in den Kitas kümmere: "Da gibt es auf politischer Ebene eine Allianz des Nichthinschauens.“ Erschöpfung, Kopfschmerzen, Stress Auch im Kreis Minden-Lübbecke liegt der Fokus von Politik und Verwaltung vor allem auf der fehlenden Zahl von Kita-Plätzen in den Kommunen. Knapp 60 Kindertageseinrichtungen im Lübbecker Land, für die das Kreisjugendamt zuständig ist, listet der Kreis auf. Mehr als ein Drittel davon befinden sich in Trägerschaft des größten Anbieters, des evangelischen Kirchenkreises Lübbecke. Der hat sich 2019 an einer Umfrage beteiligt. Rücken-, Nacken- und Knieschmerzen, Erschöpfung, Kopfschmerzen und Stress - diese Belastungen schilderten zwei Drittel von rund 380 Kita-Mitarbeitern des Kirchenkreises, die damals an einem Gesundheitsprojekt der Krankenkasse IKK classic teilnahmen. Im darauffolgenden Jahr ging es weiter mit den Modulen "psychische Belastungen" und "Stressmanagement" und dem Seminar "Gesundes Führen". Was verletzt Kinder? Wie kann ich vermeiden, dass sie zu Opfern werden? Mit Fragen wie diesen setze der Kirchenkreis sich seit mehreren Jahren intensiv auseinander. Seit das Kirchengesetz zum Schutz vor sexueller Gewalt vor zwei Jahren eingeführt worden sei, noch intensiver, berichtet Bruguet. Sie verweist zudem darauf, dass der Gewaltbegriff sich gewandelt habe: "Wir sprechen nicht nur über den großen Missbrauch. Auch Nichtbeachtung ist Gewalt, seelische Gewalt", so die Fachberaterin, die dafür plädiert, dass Kinder Stärke entwickeln: "Damit sie sagen können: stopp!" Deutlich weniger Bewerbungen Gleichwohl räumt Bruguet Probleme ein: "Wir haben Schwierigkeiten, Stellen nachzubesetzen." Zum Beispiel wenn eine Kollegin schwanger werde, weil dann ein sofortiges Beschäftigungsverbot in Kraft trete. Ein solcher Personalausfall von heute auf morgen könne nicht aufgefangen werden. Auch Corona und die jüngste Grippewelle hätten die Kitas sehr gefordert. In einer seien kurz vor Weihnachten von zwölf Mitarbeitenden nur noch zwei gesund gewesen. "Wir müssen die Aufsicht gewährleisten können. Schon wenn wenige Mitarbeitende fehlen, müssen wir das Betreuungsangebot einschränken. Bis hin zur Schließung einzelner Gruppen oder der ganzen Einrichtung - auch wenn die Eltern protestieren", wirbt Bruguet um Verständnis. Zudem habe sich die Zahl der Bewerbungen für die Ausbildung zur Erzieherin, die sie jährlich erhält, von 60 auf zehn reduziert. Der Fachkräftemangel sei "gravierend". Damit es nicht zu Gewalt gegenüber den Kindern kommt, sei die Haltung im Team entscheidend. Fehlverhalten müsse intern angesprochen und korrigiert werden. Gelinge dies nicht, würden die Leitung und das Landesjugendamt informiert. Alles, was dem Kindeswohl diene, sei in den vergangenen Jahren "rauf und runter bearbeitet" worden, berichtet die Kita-Fachberaterin des Kirchenkreises. Trotzdem sei es auch schon einmal zu einer Trennung gekommen. Anstrengend und verantwortungsvoll Besondere Bedeutung misst Diana Bruguet den Eltern bei. Auch wenn die Kita-Beschäftigen eine "Erziehungspartnerschaft" mit den Eltern haben, sieht sie vor allem die Eltern in der Verantwortung. Die Bandbreite der elterlichen Erziehung sei groß. Während manche viel Verantwortung für ihre Kinder an die Kita-Mitarbeiterinnen abgeben würden, rate sie anderen Vätern und Müttern, "das Kind einfach mal spielen zu lassen". Auch solche Elterngespräche zeigten, wie "anstrengend und verantwortungsvoll" der Beruf sei. Im Mühlenkreis geben die offiziellen Zahlen bislang keinen Anlass zu Sorge. Kreis-Pressesprecherin Sabine Ohnesorge teilt auf nw.de-Anfrage mit: Die meldepflichtigen Ereignisse müssten von den Einrichtungen/Trägern an das Landesjugendamt gemeldet werden, und das Kreis-Jugendamt werde darüber in Kenntnis gesetzt. Die meldepflichtigen Ereignisse fasst Ohnesorge als "vielfältig" zusammen. Bezogen auf Gewalt gegen Kinder und unangemessenes Erziehungsverhalten seien dem Kreisjugendamt in der Vergangenheit jährlich schwankende Zahlen im niedrigen einstelligen Bereich gemeldet worden: "Immer unter fünf." Aus diesen geringen Zahlen ließen sich seriös keine Rückschlüsse auf die Entwicklung in dem Bereich ziehen. Meldeverhalten hat sich verändert Markus Fischer, Pressesprecher des Landesjugendamtes in Münster, sieht das ähnlich. Die in den Jahren 2019 bis 2021 gemeldeten Fällen bezogen sich ihm zufolge auf Kita-Vorkommnisse in Minden, Porta Westfalica und Bad Oeynhausen. Den generellen Anstieg der Zahlen führt er auf ein "verändertes Meldeverhalten" zurück. Er fragt sich allerdings auch: "Sind tatsächlich alle Vorfälle gemeldet worden?"

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